Das Zögern der Deutschen wird ihnen auf die Füße fallen – Es muss wieder diskutiert werden. Ein Jahresrückblick. Gedanken über den Tag hinaus.

In Deutschland üben wir wenig Protest aus. Der Gelbwestenprotest hat es nicht mal bis nach Kehl geschafft. Wir suchen nach Ausflüchten. Wir lenken uns ab und lenken den Protest in die falsche Richtung. Dabei gäbe es genug Themen, die diskussionswürdig wären. Wir verschenken die Chancen auf Besserung, gerade in diesen Tagen.

Markus Lanz moderierte den Jahresrückblick politisch an. Er geht eigentlich für die Zielgruppe, ältere Leute, die noch mal den einen oder anderen Prominenten wiedererkennen wollen, viel zu weit. Er bringt zum Ausdruck, dass uns in 2018 ganz andere Sachen beschäftigt haben, als das Wetter und der Rückzug von Heino. Das ist von dem Mann richtig gemacht worden. Nur: Dass wir angefangen hätten, die richtigen Fragen zu stellen, stimmt schlicht nicht. Und dass wir genug Antworten gefunden hätten, dass die Ersten bereits begriffen hätten, diese Annahme ist grob falsch. Wir haben auch NICHT überraschend oft „Stellung bezogen“, guter Herr Lanz, sondern uns gedrückt.

Stellung haben wir wieder nur bei den falschen Themen bezogen.

Ich bin so frei und zitiere Herr Kühnert: „Das politische 2018 wird als ein Jahr zum Abgewöhnen in Erinnerung bleiben. Eines, in dem zwar andauernd irgendwas passierte, aber kaum etwas zu Ende gebracht wurde.“ In der Tat. Wir kamen davon: Kein Terror, keine Staatskrise und dann noch das Geschenk des Himmels: Der Hitzesommer lud dazu ein, endlich mal übers Wetter zu reden.

Doch in Wirklichkeit haben wir einen Mix aus Stagnation und schleichender - wie der Silberfaden in manchem Seidenschal - sanft eingewobener Verschlechterung. Alte Probleme blieben, neue Probleme kamen. Werden wir uns ein weiteres Jahr dieser Art leisten können?

Was ist eigentlich damit, dass die politischen Parteien, an der Willensbildung des Volkes mitwirken? In den Parteien ist es sicherlich an vielen Stellen versäumt wurden, die Gesellschaft zu spannenden Zukunftsdebatten einzuladen. Ich muss hier Robert Habeck recht geben: „Wir in der Politik sind nicht auf Ballhöhe.“

Wie lenkten wir uns ab? Wir haben wochenlang, nein, zwei Monate lang, über Herr Maaßen diskutiert, den Leiter einer nachrangigen Behörde. Wir haben den Konflikt über die richtige Asylpolitik immer kurz unterm Siedepunkt gehabt und wir haben mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz, dem Spurwechselgesetz, welches das Wort „Spurwechsel“ vermeidet, jede Menge geduldiges Papier bedruckt. Wir ändern gar nichts. Wir schaffen es einfach nicht. Und mit dem Migrationspakt, der im kleinen Belgien immerhin eine Regierungskrise ausgelöst hat, bereiten wie eine weitere Politik des Es-einfach-so-geschen-lassens vor.

Nochmal Hans-Georg Maaßen: Wovon reden wir hier eigentlich? Der Leiter des Bundesverfassungsschutzes sieht keine Belege für Hetzjagden. Der Verfassungsschutz soll seit einem Jahrzehnt links-multikultitauglich-wilkommenskulturlastig-bunt gemacht werden. Jetzt hat Maaßen sein Ego nicht zurückhalten können und ist fällig. Wer diskutiert eigentlich, welche schlechte Figur Steffen Seibert und damit das Kanzleramt dabei gemacht haben, als sie erwischt wurden, dass sie ihre Papiere bei der Antifa abschreiben?

Die Debatte Maaßen ist ja der Versuch über etwas zu reden: Über Asyl- und Zuwanderungspolitik, über Menschlichkeit, über Identität, über Ängste, über die Sorge, das uns alles über den Kopf wächst. Doch wir sind so kleingeistig, dass wir denken, einen Boten zu beseitigen, ändere die Nachricht, die er bei sich trug. Wir drücken uns.

2018 wurde sich mit „Aufstehen!“ eine neue politische Bewegung am Reißbrett ausgedacht und es wurden viele Personalfragen diskutiert. Merz oder AKK? Wann geht Frau Merkel? Wer folgt auf Viktoria Swarovski bei „Let´s Dance!“?

Erstaunlich ist auch, wie wenig Versuche es in der SPD gibt, sich selbst zu retten. Insider sagen, unter Nahles sei der diktatorische Ton viel schlimmer geworden, als er unter Gabriel je war. Warum dulden alle die selbstherrliche Nahles? Den einzigen guten Beitrag, der in der Presse zu lesen war, verfasste Christopher Lauer, der ehemalige Vorsitzende der Piratenpartei, welcher frech war und sich auf die Aufforderung Nahles´, man solle sich melden, wenn man es besser könne, doch glatt meldete.

Ansonsten keine Rettungsversuche.

Noch erstaunlicher ist, dass die Bewegung „Aufstehen!“ zwar gegründet wurde, aber völlig handlungsunfähig ist. Chemnitz nicht genutzt, CDU-Chaos nicht genutzt, SPD-Implosion nicht genutzt und sich von der Gelbwestenbewegung vorführen lassen, wie Protest geht. Was ist los? Warum empört sich keiner?

Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns über den Übereifer von Jens Spahn lustig machen? Oder verpassen wir nicht eher Chancen?

Wir diskutierten 2018 die Dieselfahrverbote. Schön und gut. Doch wir haben schon wieder nicht die Kraft aufgebracht, über Umwelt- und Klimastandards zu diskutieren. Merkel hatte am Ende den Vorschlag, der für unsere politische Behäbigkeit steht: Einfach den Grenzwert hochsetzten.

Eigentlich geht es beim Grenzwert in Innenstädten ja um die Lebensqualität der Menschen, die darin leben. Und da gibt es nichts zu diskutieren? Ich wüsste da ganz andere Sachen, die aufs Tableau müssten. Wir empören uns nicht.

Gleichzeitig gibt es in Deutschland auch weiterhin, und offenbar auch bis auf weiteres, keine Debatten über doch wesentliche Themen, die die Welt bewegen. Wollen wir China und die USA allein hinwegziehen lassen in der Erforschung künstlicher Intelligenz? Wenn die Vereinigten Staaten "USA first!" sagen (begann schon unter Obama), wollen wir uns nicht fragen: Quo vadis, Europa? Wollen wir statt über Grenzwerte an Feinstaub und Kohlenmonoxid nicht über die Art des ressourcenverschwendenden Wirtschaftens nachdenken und eine Fußabdrucksteuer wagen? Was ist mit unserer Identität? Müssen wir Angst vor der Digitalisierung haben, und warum haben wir nicht einen einzigen Politiker im Land, der sie uns erklärt? Niemand versucht dies. Wir ducken uns weg.

Nochmal Jens Spahn: Eines war dann doch mutig im Werben um Stimmen für den CDU-Vorsitz. Der Mann hat durchgestochen, dass die Regierungsaussage „Es kommt so gut wie gar niemand mehr zu uns“!“ in konkreten Zahlen heißt, dass bei abschwellender Problemlage im Mittleren Osten immer noch 12.000 bis 17.000 Flüchtlinge im Monat zu uns kommen. Ist das NUR gut? Nein, Herr Lanz, wir haben uns 2018 nicht die richtigen Fragen gestellt.

Der Brexit führt zu Verunsicherung. Doch was verwundert, ist dass niemand die Frage stellt, wie sich eigentlich die restliche EU ihren Zukunftsaufgaben stellen wird. Was ist die Antwort aus Paris, Berlin und Brüssel auf die Alleingänge Italiens, Großbritanniens, Ungarns und der Visegrád-Gruppe? Wir ducken uns weg.

Wenige Monate vor der Europawahl wird eine Definition von Vereinigten Staaten von Europa verweigert. Dabei haben wir eine Europawahl, zu der anti-europäische, europaskeptische und pro-europäische Parteien antreten. Es wird schlicht die wichtigste Europawahl aller Zeiten.

Was in Chemnitz passiert ist, das hat das halbe Land bewegt. Doch eine Protestbewegung hier oder gar ein Stärken der demokratischen Zivilgesellschaft dort ist daraus nicht geworden. Nur dass Katrin Göring-Eckart nun die Texte der Band „Feine Sahne Fischfilet“ kennt.

Stattdessen diskutiert das Land einen Antifa-Videoclip: Hetzjagd, ja oder nein? Owei.

Warum ist das so? Warum diese Sprachlosigkeit? Die Antwort ist, dass die Deutschen nicht streiten können, dass wir Protest á la France nicht drauf haben. Dass eine politische Behäbigkeit festzustellen ist, die in Deutschland besonders ausgeprägt ist. In Österreich gibt es Demos, als die Regierung eine Wochenarbeitszeiterhöhung durchsetzen will. In Belgien kommt es zur Regierungskrise, weil der Migrationspakt Fragen aufwirft. In Frankreich ist es so, dass wochenlange Proteste Präsident Macron, den wohl letzten Vertreter der fünften Republik, zu Zugeständnissen an Beschäftige, Rentner, Autofahrer und Verbraucher bewegen. Ja sogar im autoritär geführten Ungarn regt sich erster Protest gegen Präsident Orbán.

In hier so? In Deutschland werden kaum mehr als die Proteste im Hambacher Forst in den Köpfen bleiben. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen wird so zurück auf die Tagesordnung gehievt. Aber sonst?

Identität? Cum-Ex-Skandal mit Milliardenbetrug? Waffenexporte an Kriegsparteien? Knapp zwei Millionen neue Mitbewohner seit 2015? Schaffen wir das? Und wann ist „DAS“ überhaupt geschafft? Ist der politische Islam willkommen?

Eine Europaabgeordnete berichtet mir, dass sie die meisten Zuschriften nicht zu sozialen Verwerfungen erhielt: Sondern zu den Themen Ferkelkastration und Kükenauslese (Töten der männlichen Küken). Ich bin sehr gegen das Töten der männlichen Küken. Doch stimmt da die Gewichtung? Stellen wir die richtigen Fragen?

Offensichtlich nicht. Das liegt an der Behäbigkeit und am Egoismus der Bürger, aber auch, an der mangelnden Kampagnenfähigkeit der Parteien. Wir haben es 2018 mehr denn je verlernt zu hinterfragen. Wann war zuletzt die Politik auf Ballhöhe und trug ein brisantes Thema in die Gesellschaft? Wann sorgte eine Partei außerhalb von Posten-Geschacher mal für Diskussionsstoff? Man wünscht sich, dass 2019 solche Themen für uns bereithält. Sonst müssen wir die Diskussionen stets im Nachklang auf geschaffene Fakten führen. Und gerade darin sind wir Deutsche doch so schlecht.

Vier Beispiele, über die es sich lohnen würde mal ausführlich zu diskutieren:

1. Während Arbeiter und Beschäftigte dieses Jahr rund 2 Milliarden Überstunden anhäufen, arbeiten 15 Mio. in Teilzeit und weitere 4 Millionen im prekären Bereich. Zeit für eine Abschaffung von Minijob, Pro-Werk-Bezahlung/Werkvertragsbetrug und Zeit für ein Fordern nach fester Arbeit, einer Qualifizierungsoffensive und einem hohen Pflegemindestlohn.

2. Einwanderungsland Deutschland: Es gäbe doch was zu klären. Was heißt: Wir schaffen das? Wie kann der Islam eine Rolle spielen, die zu uns passt und sollte er überhaupt eine Rolle spielen? Sind teilweise 17.000 Migranten pro Monat wirklich „so gut wie nichts“? Wollen wir das oder wollen wir nur weggucken? Wie ist sicherzustellen, dass nicht der Arbeitsmarkt der Geringqualifizierten und der Wohnungsmarkt der Bürger mit kleinem Geldbeutel weiter belastet wird?

3. „Chancengerechtigkeit“: Statt über echte Chancengerechtigkeit zu reden, diskutieren wir über diffuse Ängste, dass es einem selbst schlechter gehen könnte (Wird das Gymnasium um die Ecke auch nächstes Jahr noch genug Musiklehrerstunden für den Geigenunterricht haben?) Doch wer eine durchlässige Gesellschaft will, muss Aufstieg und möglichen Abstieg zulassen. Alles andere wäre eine Ständegesellschaft. Für Chancengerechtigkeit müssten wir das Sozialversicherungssystem umgestalten und Persönlichkeitsweiterentwicklungen von Freiberuflern, Künstlern und Leuten mit gebrochener Erwerbsbiografie positiv mit berücksichtigen.

4. Die Politik hat sich die guten alten „gleichwertigen Lebensbedingungen“ auf die Fahren geschrieben. Als ob es je einer ernst meine. Was ist denn nun mit 5G im Osten? Mit hervorragender medizinischen Versorgung, bürgernaher Verwaltung, einer Politik des Zuhörens und des miteinander Redens? Was ist mit Innovation und Innovationsförderung? Verwöhnt den Osten!

Diese und weitere Denkanstöße wären es wert, im Jahr 2019 diskutiert zu werden. Doch das wäre mit einer Politisierung verbunden, vor der wir soviel Angst haben. Auch folgt aus einer Beschäftigung mit diesen Fragen eine neue Aufstellung der politischen Landschaft, mehr Cross-Over-Denken, mehr Bürgerbewegungen, stärkere Unabhängige, stärkere Freie Wähler, vielleicht stärkere Linke und Rechte. Wir sollten uns auf jeden Fall Fragen stellen. Wir sollten Antworten finden. Im Dialog. Mit Zuhören. Mit dem Recht, Nachfragen stellen dürfen und dem Recht, die Antworten hinterfragen zu dürfen.

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