Die moralische Rampensau – wie das penetrante Selbstdarstellertum den Zynismus fördert und der Sache schadet

Das ist nicht von mir, sondern von Eduard Kaeser und war als Gastkommentar in der Neuen Züricher Zeitung zu lesen.

Ich bin der Meinung es passt sehr gut zu den jetzigen Diskussionen, auch hier auf FuF.

(Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. 2018 ist im Schwabe-Verlag erschienen: «Trojanische Pferde unserer Zeit. Kritische Essays zur Digitalisierung».)

Ist es ein Ausdruck der Komplexität unserer Tage, dass immer mehr Leute den Anspruch erheben, anderen die Leviten lesen zu dürfen? Das Hochfahren des moralischen Urteils geht oft mit Egozentrik einher. Engagement aber darf nicht in Effekthascherei umkippen.

Das Reden über die Moral, so beginnt der Philosoph Kurt Baier sein Buch «Der Standpunkt der Moral» (1958), sei oft «recht abstossend. Moralische Vorwürfe erheben, moralische Entrüstung zum Ausdruck bringen, moralische Urteile fällen, einen moralischen Tadel aussprechen, sich selbst rechtfertigen und überhaupt und ganz besonders moralisieren – wer mag das gern hören?»

Nun, es gibt heute durchaus einen Schlag von Leuten, die das offenbar mögen. Wer kennt sie nicht, diese penetrant missionierenden Levitenleser oft privilegierter Herkunft, die uns mit ihrem zur Schau gestellten Gewissen vorrechnen, wie viele Tonnen Kohlendioxid wir täglich verpuffen oder wie viele unterbezahlte, unterdrückte, unterernährte Kinder in eine Jeans «investiert» würden. «Virtue signalers» – «Tugendsignalisierer» – nennt man sie neuerdings im Englischen. Die abschätzige Konnotation rührt daher, dass am Signalisieren der Verdacht der Verlogenheit klebt. Man könnte von «Gretisieren» sprechen.

Ich bezichtige Greta Thunberg nicht der Unlauterkeit. Aber eine gewisse Effekthascherei spielt in ihrem Engagement zweifellos mit. Ist das schlecht? Statuiert Greta mit ihrer Tugend-Performance nicht das Exempel eines erwachten ökologischen Bewusstseins, einer «wokeness», wie das jetzt unter ethischen Hipstern heisst? Die Frage müssten wir alle in generalisierter Form an uns selbst richten: Tue ich etwas Gutes, oder will ich den anderen zeigen, dass ich etwas Gutes tue? Gibt es überhaupt einen klaren Unterschied? Eine Frage, wie geschaffen für unser Zeitalter der Verstellung und Zurschaustellung. Die Philosophen Justin Tosi und Brandon Warmke sind ihr in einem höchst brisanten Essay nachgegangen, und sie haben das zeitgeistige Phänomen auf einen Begriff gebracht: moralisches Selbstdarstellen («moral grandstanding»). Es lässt sich an fünf augenfälligen Symptomen erkennen: dick auftragen, härtere Konsequenzen fordern, Anklagen fabrizieren, sich exzessiv empören, selbstgerecht urteilen.

Möglichst dick auftragen

Wer dick aufträgt, bringt keine neuen Argumente oder Gesichtspunkte in eine moralische Debatte, sondern echot einfach die Argumente anderer. Man will vor allem als moralisch respektable Person auftreten und wahrgenommen werden. Ein sozialpsychologisches Phänomen: Gruppenmitglieder tragen umso dicker auf, je mehr sie das Gefühl haben, den anderen etwas – zum Beispiel eine «korrekte» Haltung – «beweisen» zu müssen. Ähnlich setzt das Konsequenzen-Verschärfen bei einem bereits bestehenden moralischen Urteil an. Angenommen, ein Manager habe sich unethischer Geschäfte schuldig gemacht. Das Urteil ist klar: Er ist nicht mehr tragbar. Nun schaltet der Selbstdarsteller quasi einen moralischen Gang höher: Ich bin einverstanden, aber wenn uns wirklich um die Unternehmensethik zu tun ist, dann bin ich für die öffentliche Ächtung dieser Person. Durch dieses Hochfahren des Urteils wird gleichzeitig auch die Respektabilität des Urteilenden hochgefahren. Das kann zu einem moralischen Wettrüsten führen.

Wer Tugend als Instrument benutzt, hat sich von ihr verabschiedet.

Anklagen fabrizieren – im Englischen höchst bezeichnend «trump up» genannt – macht aus einer moralischen Mücke einen moralischen Elefanten. Der Selbstdarsteller, typischerweise begierig, in strittigen Fragen seine ethische Profilschärfe zu demonstrieren, wird deshalb nicht zögern, auch auf relativ unumstrittenem Terrain die «moralische Sache» hervorzuheben. Er signalisiert dadurch, dass sein moralischer Riechkolben auf all den Unrat der Welt empfindlicher reagiert als das Sensorium anderer.

Mit dieser Empfindlichkeit korreliert die Empörungsbereitschaft. Empörung und Betroffenheit verbreiten sich wie moralischer Herpes. Es scheint, als liesse man sich von der Annahme leiten, moralische Integrität messe sich an der Stärke der Indigniertheit. Der emotionale Ausdruck ist zweifellos oft das wahrnehmbarste und stärkste Indiz für innere moralische Bewegtheit. Aber solche Bewegtheit hat nichts mit der Richtigkeit der moralischen Überzeugung zu tun. Nur der sicht- und hörbar Empörte oder Wirklich problematisch ist der Monopolanspruch auf die Richtigkeit, die «Selbstevidenz» des eigenen Standpunktes. Für die Begründung oder Verteidigung des eigenen Standpunkts sehen Selbstdarsteller oft keinen Bedarf. Ihre Sicht auf andere Gesichtspunkte ist ein einziger blinder Fleck. Wer ihren moralischen Standards nicht entspricht oder sie nicht akzeptiert, zeigt Begriffsstutzigkeit, ist nicht «woke» genug, die Argumente zu verstehen. Was sich allerdings leicht verstehen lässt, ist die Tendenz zur Rechthaberei und damit zur Polarisierung, die sich in der selbstevidenten, selbstgerechten moralischen Monopolhaltung abzeichnet.Betroffene ist der «ethisch Kompetente»: Das ist der Fehlschluss des Strassenmobs. – Übrigens erschöpft sich Empörung irgendwann.

Im sozialen Komparativ

Diese Symptome zeigen eines: Der moralische Selbstdarsteller lebt im sozialen Komparativ. Er will nicht nur gut, er will besser dastehen als andere. Und dieses Bedürfnis sieht sich besonders auf den Online-Bühnen gefördert. Man vernimmt hier ja ständig, was andere über einen denken, und diese Exposition lässt sich am besten dadurch aufrechterhalten, dass man quasi zur moralischen Rampensau wird. Rousseau sprach 1755 in seiner berühmten Abhandlung über die Ungleichheit von der Mutation der natürlichen Selbstliebe («amour de soi»), als notwendiger Grundlage genügsamer Selbsterhaltung, zur Selbstsucht («amour propre»), die unersättlich ist und die Menschen einander zu Feinden macht.

Der moralische Impuls hat eine klar erkennbare Richtung: weg vom Ego. Moralisches Selbstdarstellen verläuft antiparallel: hin zum Ego. Trotzdem ist der Selbstdarsteller oft geschickt darin, den Eindruck zu erwecken, es gehe ihm primär um öffentliche Belange. Und er hat in einem perversen Sinn sogar recht. Denn öffentliche Belange sind für ihn das Medium der Selbstdarstellung. Zwischen Selbstinteresse und öffentlichem Interesse besteht kein Widerspruch. Die Öffentlichkeit, die Moral: Das bin ICH.

Der wohl schädlichste Einfluss des moralischen Selbstdarstellens – hier dem «Bullshit» nah verwandt – dürfte darin liegen, dass es sich zu einem Herd des Zynismus entwickeln kann. Ich komme noch einmal auf das Beispiel von Greta Thunberg zurück. Die aufkeimenden Zweifel an ihrer Performance sind symptomatisch für den kränkelnden moralischen Diskurs dieser Tage. Man vertraut dem ganzen Mummenschanz der Tugend, all diesen einstudierten Gebärden und Posen der Rechtschaffenheit und #MeToo-Betroffenheit, schlicht nicht mehr. Ja infiziert vom Verdacht des Selbstdarstellens, nehmen wir auf einmal dieses Phänomen auch bei Leuten wahr, die es aufrichtig meinen. Der giftige Infekt hat das gesellschaftliche Bindegewebe befallen.

Was ist Tugend?

In uns steckt das tief verwurzelte Bedürfnis nach Anerkennung, und diese Anerkennung holen wir uns immer auch durch das Selbstdarstellen. Die Rampensau lauert in uns allen. Es kann also nicht um eine pauschale Verurteilung dieser Verhaltensweise gehen. Wir stossen hier auf die uralte Frage nach dem Kern des tugendhaften Verhaltens, eine Frage, die wir nie eindeutig beantworten können. Aber um zu ermessen, wie weit es mit unserer Moral gekommen ist, muss man über zwei Jahrtausende zurücksetzen, zur Ethik von Aristoteles. Er unterschied zwischen Handlungen, die aus charakterlichen Gründen moralisch sind, und solchen, die bloss so erscheinen. «Handlungen im Bereich des Sittlichen (haben) nicht ohne weiteres den Charakter des Gerechten oder Besonnenen, wenn sie selbst einfach in charakterlicher Erscheinungsform auftreten, sondern es muss auch der handelnde Mensch selbst in ganz bestimmter Verfassung wirken.»

Ein einziges Wort beschreibt diese Verfassung: Selbstkritik. Meist schätzen wir uns moralisch zu hoch ein. Deshalb greifen wir ja in Debatten auch gerne zur Moralkeule. Wir wollen imponieren. Tugend signalisieren. Und genau darin liegt die Gefahr: Man unterzieht den eigenen Standpunkt gar nicht mehr der Prüfung. Wer Tugend als Instrument benutzt – als Maske, Prügel, Ego-Pusher –, hat sich von ihr verabschiedet.

Ps.: ein Dankeschön an @rigoletta für den Hinweis auf diesen Kommentar auf FB.

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