Ziviler Ungehorsam: politisch motivierter Gesetzesbruch in der Demokratie.

Im Rahmen meiner Tierbefreiung bei Alfons Mensdorff-Pouilly kam die Diskussion auf, in wieweit das Übertreten sogar von Strafgesetzen demokratiepolitisch legitim sein kann. Immerhin sollten Gesetze in einer Demokratie ja dem Mehrheitswillen entsprechen, sie bewusst zu übertreten müsste daher demokratiewidrig sein. Aber gleichzeitig haben Bürgerrechts-Koryphäen wie Martin Luther King und Mahatma Gandhi betont, dass politische Umbrüche in einer Demokratie nur durch Gesetzesbrüche zustande kommen können.

Die Antwort ist einfacher als erwartet. In einer idealen Demokratie ergibt sich das System an Gesetzen in der Gesellschaft durch einen offenen und öffentlichen „Wettbewerb“ der verschiedenen Interessen. Das System ist ein dynamisches Gleichgewicht, es verändert sich ständig. Und diese Veränderung ist durch den Widerstreit der Interessensvertretungen bestimmt. Demokratie bedeutet also Konflikt. Die Regeln des Konflikts, um ihn konstruktiv zu halten, werden durch die Prinzipien der Demokratie eingegrenzt: alles, was den offenen (im Sinne von: ehrlich, ohne Angst) und öffentlichen (im Sinne von: alle dürfen sich beteiligen) Dialog fördert ist demokratiepolitisch legitim.

Wichtig dabei ist zu verstehen, dass die Regeln des Konflikts für alle Interessensvertretungen gleich gelten müssen. Der Konflikt soll ja schließlich das geltende Wertesystem der Gesellschaft festlegen, es kann also ganz grundsätzlich nicht sein, dass diejenigen mit „besseren“ Werten größere Befugnisse bekommen, also z.B. jemand, der sich für Menschenrechte engagiert, darf radikaler auftreten, als jemand, der sich für Tierrechte engagiert. Ebenso müssen AbtreibungsgegnerInnen genauso viel Spielraum bekommen, wie AbtreibungsbefürworterInnen. Die Regeln der Demokratie sind noch wertfrei. Würde man Werte apodiktisch voraussetzen, würde man die Prinzipien der Demokratie pervertieren.

Da sich das System von Gesetzen in der Gesellschaft durch einen Konflikt ergibt, ist eine notwendige Voraussetzung für eine ideale Demokratie, dass Waffengleichheit gilt. Arme müssen genauso viel Handlungsspielraum haben wie Reiche, diejenigen ohne politischen Einfluss gleichviel wie jene mit. Aus dem Umstand, dass das nicht der Fall ist, ergibt sich die Legitimation von Zivilem Ungehorsam, um vielleicht keine ideale, aber eine funktionierende Demokratie zu erhalten. Ziviler Ungehorsam soll die herrschende Waffenungleichheit ausgleichen.

Sagen wir, ich möchte eine demokratische Entscheidung über die Tierhaltungspraxis in Tierfabriken erreichen. Dazu ist es notwendig, die Öffentlichkeit seriös über diese Praxis zu informieren. Wenn nun die Tierindustrie diese Information nicht herausrückt, ist eine öffentliche Diskussion darüber unmöglich. Daher ist es legitim, diese Waffenungleichheit, dass also nur eine Seite gewisse zentrale Informationen besitzt, dadurch auszugleichen, dass die andere durch ein Minimum an notwendigen Gesetzesbrüche an diese Informationen herankommt und sie verbreitet. Weil dadurch die öffentliche Diskussion gefördert wird, ist das demokratiepolitisch legitim, wenn auch gesetzwidrig.

Oder eine Seite hat direkten politischen Einfluss, wie Mensdorff-Pouilly, und kann daher z.B. durch Jagdeinladungen diejenigen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen, dazu bringen, gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung keine Änderung der Gesetze durchzuführen oder z.B. Mensdorff-Pouillys Treiben tolerieren, obwohl es gesetzwidrig ist. Dann ist eine Tierbefreiung legitim, wenn sie die offene und öffentliche Diskussion darüber fördert und diese dunklen Machenschaften aufdeckt.

Man kann einige Eigenschaften angeben, die solche Aktionen des Zivilen Ungehorsams erfüllen müssen. Z.B. sollten sie erst dann eingesetzt werden, wenn alle legalen Kanäle genutzt worden sind und keinen Effekt hatten. Sie sollten ein Minimum an Rechtsverletzung einem Maximum an symbolisch-appelativer Botschaft gegenüber stellen. Sie sollten Teil einer großteils legalen Kampagne sein. Die AktivistInnen sollten offen zu ihrer Handlung stehen und die rechtlichen Konsequenzen auf sich nehmen. All diese Bedingungen hat meine Tierbefreiung bei Mensdorff-Pouilly erfüllt.

Nicht demokratiepolitisch legitim wäre z.B. die Drohung mit Gewalt. Sie fördert nicht, sondern verhindert die offene Diskussion. Ebenso illegitim wäre eine Sachbeschädigung in einem so relevanten Ausmaß, dass eine Seite aus Angst, wiederholt Opfer solcher Aktionen zu werden, klein beigibt und aus der Diskussion aussteigt. Die Grenze zwischen legitim und illegitim ist entsprechend nicht an der Grenze zwischen legal und illegal angesiedelt. King und Gandhi hatten also Recht.

Für Details siehe mein Buch „Widerstand in der Demokratie“, das mittlerweile als Lehrbuch des Zivilen Ungehorsams gilt, in andere Sprachen übersetzt wurde und bei der Aktivismusausbildung in Österreich und darüber hinaus Verwendung findet.

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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