Sie geht uns alle an und doch wenden sich immer mehr Menschen von ihr ab: die Politik. Die Leute gehen weniger zu den Wahlen und organisieren sich seltener in Parteien – man spricht von Nachwuchsproblemen, nimmt eine Perspektivenlosigkeit wahr. Es gehört nicht unbedingt zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen sich mit dem zu beschäftigen, was landläufig als „die Politik“ bezeichnet wird. Zumeist sind damit die handelnden Akteur*innen gemeint, die gewählten Vertreter*innen des Volkes, unsere Politiker*innen eben.

Zu fern erscheinen diese, lächeln für manche bestenfalls von Plakaten runter und sind in den Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen im Kurzformat nachzuschauen. Auch sind für viele die Entscheidungsstrukturen und Prozesse nicht nachvollziehbar: Gestern noch eine radikale Forderung, morgen schon ein fauler Kompromiss. Wer soll sich da noch auskennen, wer möchte sich da noch engagieren, wie kann man sich dafür interessieren? Dabei ist nahezu jeder Lebensbereich von „der Politik“ betroffen, ist fast jede unsere Handlungen im Grunde eine politische. Schauen wir uns drei Beispiele an.

Das Produkt das ich kaufe hat eine Geschichte und eine Zukunft, wurde irgendwo unter irgendwelchen Umständen erzeugt und wird auch irgendwie und irgendwo entsorgt. In der Regel haben wir kaum wirklich Einblick in dieses „Leben“ der Produkte, auch wenn ein großer Marketing-Aufwand betrieben wird, ebendieses scheinbar transparent zu machen. Da sprechen wir dann von Fairtrade, von Bio, von Slow Food und so weiter und meinen damit eigentlich: Politisch korrekt weil ökologisch und/oder moralisch wertvoll. Das zieht auch bei Kosmetika, bei unserer Kleidung, sogar bei der Frage des Wohnens und unseres Mobilitätsverhaltens. Eine echte Politisierung der Ökonomie? Wohl kaum. In den meisten Fällen eher eine geschickte Manipulationsstrategie.

Denn über die wahren Hintergründe unserer Konsumgüter erfährt man kaum mehr als neue Gütesiegel von fragwürdigen Zertifizierungsstellen, vage und verkürzte Studienergebnisse und das obligate Allheilsversprechen: Du hast (d)einen Beitrag geleistet. Unsere Käufe beeinflussen ganz massiv das Leben der Produzent*innen, also das Leben jener, die unsere Obstsalate und Jeans auf den Feldern pflücken. Aber auch jener, die daran wirklich verdienen. Und am Ende auch unsere Umwelt, in Form der ökologischen Schäden.

Nicht anders verhält es sich auf beruflicher Ebene: Die Sozialindustrie ist längst die größte Arbeitgeberin mit enormen Wachstumsraten, die großen Hilfsorganisationen beschäftigen mehr Menschen als die weltweit führenden Industriekonzerne. Jährlich werden hunderte Milliarden Euro mit „sozialen Themen“ umgesetzt – allein im deutschsprachigen Raum. Der Wert der hier noch nicht berücksichtigten unbezahlten Arbeit geht in die Billionen. Die Pflege alter und kranker Menschen oder jener mit Behinderungen, die Unterstützung von sogenannten Bedürftigen, die Stärkung marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen… es gibt offenbar immer mehr Bedarf und auch immer mehr Nachfrage nach Betätigung in diesen Bereichen.

Als eines der wichtigsten Motive für ein berufliches Engagement in diesen Sektoren wird der „Wunsch zu helfen“ angeführt, also Verantwortung zu übernehmen für seine Mitmenschen, einen Beruf „mit Sinn“ auszuüben. Natürlich wäre es naiv diese oder ähnliche Slogans der Einrichtungen unhinterfragt als Zeichen für ein steigendes Bewusstsein zu werten. Oftmals gibt es einfach woanders keine Jobs, sind die Zugangshürden in diesen Bereichen niedriger weil die Arbeit vielfach körperlich anstrengend, emotional herausfordernd und schlecht bezahlt ist. Es ist ja eine dieser “Seltsamkeiten” des Kapitalismus, dass just jene am schlechtesten entlohnt werden, die sich am meisten für andere einsetzen.

Wie verhält es sich im öffentlichen Raum? Wenn wir zur Arbeit fahren oder einkaufen, wenn wir Freund*innen in Lokalen treffen oder einfach spazieren gehen: wir sehen sie, aber wir wollen sie nicht wahrnehmen. Die Ausgeschlossenen, die Unangepassten, die Bedrohten. Zivilcourage, der Mut im Alltag, ist ein in der Theorie beliebtes Konzept, das viel zu selten tatsächlich angewandt wird.

Da sterben Menschen stumm in Aufzügen, da werden Frauen in Verkehrsmitteln sexuell belästigt oder Migrant*innen rassistisch beschimpft, da werden Flüchtlinge mit Flugzeugen unter verzweifelten Hilfeschreien abgeschoben – und wir schauen weg, wir hören nicht hin, wir wollen da nicht reingezogen werden. Dabei hätte Aufmerksamkeit sowohl einen unmittelbaren als auch einen langfristigen Effekt: Meistens würde ein Hinschauen, ein Aufschreien, ein Eingreifen direkt die negativen Auswirkungen für die Betroffenen abmildern oder verhindern. Es würde vor allem auch ein starkes Signal an all jene sein, die darauf bauen, dass die meisten von uns sich nicht solidarisch verhalten möchten: Wir lassen nicht zu, dass ein Mitmensch so behandelt wird!

Wir sehen also: Unser Einkauf ist politisch. Unsere Arbeit ist politisch. Unser Alltag ist politisch. Kurz: Man kann das Persönliche nicht vom Politischen trennen. Aber wir wollen mit „der Politik“ nichts zu tun haben? „Die Politik“ ist etwas Fernes, etwas Fremdes? Wir sind nicht in erster Linie Konsument*innen oder Arbeitnehmer*innen, wir sind in erster Linie Menschen und als solche Bürger*innen mit Rechten. Durch diese können wir über die Beteiligung an demokratischen Prozessen die Rahmenbedingungen für unser Zusammenleben gestalten. Auch. Denn alle vier oder fünf Jahre aus einer eingeschränkten Auswahl an Personen unsere Vertreter*innen zu bestimmen ist für viele Menschen unbefriedigend. Und eine ungeheuer große und steigende Anzahl an Menschen darf gar nicht wählen. Weil sie nicht die Staatsbürgerschaft besitzen oder sich irgendwo „illegal“ aufhalten und nicht in den Genuss von Bürgerrechten kommen.

Wir müssen unser politisches Bewusstsein stärken, eine persönliche politische Haltung aufbauen, uns als politische Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen selbst wahrnehmen und einbringen. Das beginnt in den Gedanken, in denen wir zulassen müssen, dass uns „die Politik“ was angeht. Dass sie nicht etwas Abstraktes ist und wir auf sie Einfluss nehmen können. Je stärker wir das in unseren Köpfen verankern, umso eher können wir entsprechend  handeln, und umso eher werden auch unsere Medien und unsere Politiker*innen dem entsprechen, was wir uns von ihnen erwarten. Und umso eher wird sich unser Zusammenleben in die Richtung verändern, die wir uns im Grunde alle wünschen: In eine gerechtere und solidarischere Welt.

von Sebastián Bohrn Mena von Políticas // www.facebook.com/politicasblog

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