Wenn die Ukraine fällt und Moskau die vollständige Kontrolle des ukrainischen Staatsgebietes gelingt, dann darf ich Sie heute zu einem interessanten Gedankenexperiment eines möglichen, zukünftigen Szenarios, anno 2030, einladen:
1. Die Situation in der Ukraine: "Befriedung" durch Gewalt
Ein Sieg Russlands bedeutet nicht sofortigen Frieden, sondern den Übergang von einem konventionellen Krieg in einen Besatzungszustand.
Säuberungen und Filtration: Wie in den besetzten Gebieten bereits geschehen, würde der russische Geheimdienst (FSB) eine massive "Filtration" durchführen. Veteranen, zivile Aktivisten, Journalisten und lokale Beamte würden verhaftet, deportiert oder eliminiert.
Guerillakrieg: Die Westukraine (historisch anti-russisch) würde sich wahrscheinlich nicht einfach fügen. Wir würden ein Szenario ähnlich wie in Nordirland (IRA) oder Afghanistan erleben: Jahre von Bombenanschlägen, Sabotageakten auf Pipelines und Eisenbahnen und Attentaten auf die russische Besatzungsverwaltung.
Zwangsmobilisierung: Russland würde, wie bereits im Donbas geschehen, die überlebende ukrainische männliche Bevölkerung zwangsrekrutieren. Die ukrainische Armee würde nicht aufgelöst, sondern in die russische Armee integriert. Das bedeutet: Russland hätte plötzlich eine noch größere Armee, die direkt an der polnischen Grenze steht.
Der "Vizekönig": Moskau würde ein brutales Regime installieren (vermutlich angeführt von einer Figur wie Medwedtschuk oder einem Überläufer aus dem Sicherheitsapparat), das mit absoluter Härte gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, um Moskau die Drecksarbeit zu ersparen.
Umerziehung: Das ukrainische Bildungssystem würde sofort russifiziert (wie bereits in den besetzten Gebieten). In den Schulen würde gelehrt, dass die Ukraine nie existierte und der Westen der Erzfeind ist. Eine ganze Generation würde mit Hass auf Europa indoktriniert.
Die Ressource Mensch: Die ukrainische Rüstungsindustrie (die sehr potent ist, z.B. Drohnenbau, Raketentechnik) würde in den russischen militärisch-industriellen Komplex geschluckt. Russland hätte Zugriff auf Motorenwerke (Motor Sitsch) und Panzerfabriken (Charkiw), was ihre Rüstungsproduktion massiv beschleunigen würde.
2. Die Flüchtlingskrise: Der Kollaps der Systeme
Das ist der Punkt, den viele in Europa unterschätzen.
Wenn Kiew fällt und eine russische Zwangsherrschaft droht, werden wir nicht mehr von 4 Millionen Flüchtlingen sprechen. Prognosen gehen in einem solchen Szenario von 10 bis 15 Millionen weiteren Ukrainern aus, die nach Westen fliehen.
Folgen für Deutschland und die EU: Die Sozialsysteme würden kollabieren. Die politische Debatte würde sich extrem radikalisieren. Die Wohnungsnot und die Kosten würden die bisherigen Krisen wie "Kleinigkeiten" aussehen lassen. Das würde die EU politisch extrem destabilisieren.
3. Geopolitik: Die neue Grenze und die NATO
Mit der Ukraine als russischem Vorfeld verschiebt sich die strategische Karte Europas dramatisch.
Deutschland als Frontstaat: Die Pufferzone ist weg. Russische Truppen (und Raketensysteme) stünden direkt an der Grenze zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien.
Raketen in den Karpaten: Russland würde seine modernen Raketensysteme (Iskander, Hyperschallwaffen) nicht mehr in Kaliningrad oder weit hinter der Grenze stationieren, sondern in der Westukraine (z.B. Lwiw oder Uschhorod).
Konsequenz: Die Vorwarnzeit für einen Angriff auf Berlin, Wien oder München würde sich von Minuten auf fast null reduzieren. Europa lebte permanent mit der Pistole auf der Brust. (Angriffe dieser Art auf europäische Hauptstädte werden täglich im russischen Staatsfernsehen vor einen Millionenpublikum propagiert)
Das "Schwarze Meer" als russischer See: Ohne eine souveräne Ukraine kontrolliert Russland das Schwarze Meer komplett. Sie könnten den globalen Weizenhandel diktieren und Druck auf die Türkei (Bosporus) sowie Rumänien und Bulgarien ausüben. Die NATO wäre in diesem Meeresraum faktisch handlungsunfähig.
Militarisierung Europas: Europa müsste nicht mehr 2% des BIP für Verteidigung ausgeben, sondern eher 5-6% (Kalter-Krieg-Niveau), nur um die konventionelle Abschreckung aufrechtzuerhalten. Die "Friedensdividende" wäre für Jahrzehnte Geschichte. Sozialleistungen müssten massiv gekürzt werden, um die Rüstung zu finanzieren.
Nukleare Proliferation: Andere Staaten (z.B. Polen, Südkorea, Japan) würden lernen: "Sicherheitsgarantien der USA sind wertlos. Wer keine Atombomben hat, wird gefressen." Das Risiko einer weltweiten Aufrüstung mit Atomwaffen würde drastisch steigen.
4. Russland: Der "Siegestaumel" und die nächsten Ziele
Ein Sieg würde Putins System innenpolitisch unantastbar machen und die Hardliner bestätigen.
Bestätigung der Gewalt: Die Lehre für Moskau wäre: "Der Westen ist schwach, dekadent und unwillig zu kämpfen. Wir können uns nehmen, was wir wollen, wenn wir nur lange genug durchhalten."
Moldau und Baltikum: Nach einer Phase der Regeneration (1-2 Jahre) würde sich der Blick wahrscheinlich auf Moldau (Transnistrien) richten. Auch die baltischen Staaten (NATO-Mitglieder) wären massivem hybriden Druck ausgesetzt, um die Glaubwürdigkeit der NATO-Beistandspflicht (Artikel 5) zu testen.
Wirtschaft: Die Kosten der Besatzung wären gigantisch. Russland müsste ein zerstörtes Land von der Größe Frankreichs subventionieren und gleichzeitig den Guerillakrieg bekämpfen. Das könnte langfristig (nach den 5 Jahren) zum ökonomischen Kollaps führen, aber kurzfristig würde die Ausbeutung ukrainischer Ressourcen (Lithium, Getreide, Kohle) Russlands Position stärken.
5. Der wirtschaftliche "Silent Killer" (Ökonomie)
Ein russischer Sieg wäre pures Gift für den Investitionsstandort Europa.
Kapitalflucht: Wer investiert noch in Fabriken in Ostpolen, der Slowakei oder Ostdeutschland, wenn russische Panzer 100km entfernt stehen und die NATO wackelt? Internationales Kapital ist scheu. Investitionen würden in die USA oder nach Asien abwandern. Europa würde deindustrialisieren, nicht wegen grüner Politik, sondern wegen des Sicherheitsrisikos.
Dauerhafte Kriegswirtschaft: Wir müssten die europäischen Armeen nicht "ein bisschen" fit machen. Wir müssten zurück zu Beständen des Kalten Krieges: Tausende Panzer, massive Luftabwehrsysteme in jeder Großstadt. Das Geld dafür (Hunderte Milliarden) müsste woanders gestrichen werden: Bildung, Rente, Infrastruktur. Der Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn kennen, wäre nicht mehr finanzierbar.
6. Das globale Signal (China)
Xi Jinping beobachtet genau. Wenn der Westen (USA/EU) nicht in der Lage ist, die Ukraine zu schützen, wird Peking schlussfolgern, dass die USA auch Taiwan nicht verteidigen werden.
Ein russischer Sieg in der Ukraine erhöht die Wahrscheinlichkeit eines chinesischen Angriffs auf Taiwan in den nächsten 5 Jahren massiv. Das würde die Weltwirtschaft (Halbleiter/Chips) komplett lahmlegen und wäre weit verheerender für unseren Wohlstand als der Ukraine-Krieg.
7. Das psychologische Gift (Gesellschaftliche Spaltung)
Das ist vielleicht der subtilste, aber gefährlichste Punkt.
Die Schuldfrage: Wenn die Ukraine fällt, würde in Europa ein giftiger Streit ausbrechen: "Wer ist schuld?" Die Osteuropäer würden den Deutschen und Franzosen Verrat vorwerfen. Die EU könnte an diesem inneren Misstrauen zerbrechen.
Der Triumph der Autokraten: Rechte und linke populistische Kräfte in Europa würden den Sieg Putins als Beweis nehmen, dass das Modell "Liberale Demokratie" gescheitert ist. Wir würden eine Welle von "Orbanisierung" in Europa erleben. Länder könnten versuchen, bilaterale Deals mit Putin zu machen, um sich zu "retten", statt auf die EU zu setzen.
Zusammenfassung des Szenarios
Wenn Russland gewinnt, kehrt keine Ruhe ein.
Wir hätten eine hochmilitarisierte Grenze mitten durch Europa, eine dauerhafte Flüchtlingskrise, eine extrem teure Aufrüstungspflicht für Deutschland und andere EU-Staaten und eine Weltordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt. Für Europa wäre dies geopolitisch der "Worst Case", da es seine Sicherheit nicht mehr selbst garantieren könnte und permanent erpressbar wäre.
Fazit
Wer heute fordert, den Krieg einzufrieren bzw. diesen "Friedensplan" zu unterzeichnen oder die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen, wählt nicht den Frieden. Er wählt lediglich eine kurze Atempause vor einem viel größeren Sturm. Ein Sieg Russlands wäre nicht das Ende des Krieges, sondern der Startschuss für das gefährlichste Kapitel der europäischen Geschichte seit 1945. Die Kosten, die Ukraine heute zu unterstützen, sind hoch. Aber die Kosten, sie fallen zu lassen, werden unbezahlbar sein.