für D.T.

An dem Tag, als ich seit langer Zeit wieder einmal eine Grundschule betrat, wurde gefragt, was man in der Schule, eher war eine Elementarschule gemeint, gelernt hat. Ein von uns sehr geschätzter Lehrer erzählte vom Krieg, das Schlimmste, was er als achtzehnjähriger Soldat erlebt hatte, waren die norwegischen Krankenschwestern, vor denen er seinen Po entblößen musste, damit sie ihn spritzen konnten. Es war also nicht alles nur Indoktrination. Natürlich lernten wir lesen und schreiben. Auf meinem allerersten Zeugnis hatte ich in beidem eine 1, trotzdem schrieb die Lehrerin, dass ich wild und nicht sorgfältig sei. Was hätte ich für Zensuren bekommen können, wenn ich zahm und sorgfältig gewesen wäre? Da ich einen sehr guten Russisch- und Musiklehrer hatte, lernte ich in diesen beiden Fächern auch sehr gut. An mehr kann ich mich nicht erinnern, aber als ich jetzt in dieser Grundschule ganz nach oben ging, lagen dort auf einem Tisch aussortierte alte Kinderbücher, die sich die heutigen Kinder wohl mit nach Hause nehmen können. Zuoberst lag Ludwig Renns ‚Nobi‘*, die rührende Geschichte einer wunderbaren Kindheit im historischen Afrika. Sofort erstand meine Kindheit in meiner Fantasy**. Ich sehe mich am Nachmittag, die Mappe, damals noch Ranzen genannt, war zuhause abgelegt, das Mittagessen hineingeschlungen, eine kurze Stippvisite auf dem Spielplatz absolviert, aber dann ging ich in die Kinderabteilung der Stadtbibliothek. Sie erschien mir riesig. Sie erschien mir fast so groß, wie heute die Grimm-Bibliothek, die größte Freihand-Bibliothek Europas. Die Studenten sagen, sie sei zu klein. In meiner Bibliothek kannte ich mich aus. Ich habe damals alle Kinderklassiker gelesen, aber mein Oberklassiker war Ludwig Renn.

Was ich damals nicht wusste und was für mich auch irrelevant gewesen wäre, dass er ein ehmaliger Adliger war, ein Freund des sächsischen Kronprinzen, Offizier im ersten Weltkrieg, Schriftsteller in der Weimarer Republik, Kommandeur im spanischen Bürgerkrieg, Emigrant in Mexiko, Professor an der Humboldt-Universität. Obwohl er weitgereist und welterfahren war, war er ganz auf der Linie der regierenden Partei. der Grund war vielleicht seine, wie man heute sagen würde, offen schwule Lebensweise. Mit seinem Lebensgefährten und einem weiteren Freund lebte er in einer Villa in Berlin-Kaulsdorf. Alle drei wurden später zusammen auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde begraben, Abteilung Künstler, obwohl seine beiden Freunde vielleicht weder Sozialisten noch Künstler waren.

Ludwig Renn, dessen wirklicher Name Arnold Vieth von Golßenau war, eröffnete mir die andere Seite der Welt, die eine Seite war die Russenkaserne am Binnenhafen meiner winzigen Heimatstadt. Ein kleiner mexikanischer Junge namens Trini half – in dem gleichnamigen Buch – seiner Familie bei Überleben. Und Nobi, ein wirklich heldenhafter kleiner Afrikaner, kämpfte gegen alles, was nicht in seine Heimat gehörte. Soweit, und auch in dem heute merkwürdigen Wort ‚gerechter Kampf‘ war das Buch linientreu. Aber dafür habe ich es nicht geliebt. Jetzt, beim Wiederlesen nach sechzig Jahren, las ich denselben Glanz und dieselbe Spannung: Nobi ist ein Zauberer. Er kann nicht nur mit den Tieren kommunizieren, sondern sein Lächeln bewirkt, dass alle Menschen – egal was sie vorher gedacht oder geplant hatten – ihm freundlich begegnen. Dieses Lächeln ist das Äquivalent zum Nathan-Parabel-Ring, von dem sich ja auch herausstellt, dass die Wirkung auch ohne den Ring möglich ist. Es gibt solche Menschen, und wir alle sollten uns bemühen, zu ihnen zu gehören. Nobi verliert früh seinen Vater durch einen grausamen Jagdunfall, dadurch verabscheut er die Jagd und wird aus Protest Schmied. Man kann das heute gut und gerne als Anti-DDR-Parabel lesen, nur können wir nicht mehr eruieren, ob der Erfinder von Nobi es so gemeint hat. Seinen bösen Lehrmeister überflügelt und vertreibt er, genauso wie er ohne Jagd und ohne Sport – nur durch seinen Beruf – zu einem Athleten heranwächst, vor dem man sich fürchten sollte, wenn man ihn nicht lieben müsste. Der großmächtige Zauberer, der alte böse König, der junge gute König, sie alle gehen auf seine Seite über. Die weißen Sklavenhändler jedoch werden von ihm bekämpft (‚gerechter Kampf‘), besiegt und vertrieben. Und da steht ein Satz, der überhaupt nicht in die frühe DDR passte: Nobi tut es leid, dass er im Kampf so viele europäische Sklavenhändler töten musste, aber seine hochgiftige Zauberschlange tröstet ihn: es ging nicht anders, sagt sie. Aber fortan wird er die Sklavenhändler, wiewohl sie abgrundtief böse sind, nur noch vertreiben.

Mit erstaunlicher Weitsicht und Modernität wird die Natur und die Kraft der Natur beschrieben. Ein alter Elefant, der so vielen Menschen als aggressiv und böse erschien, wird lenkbar im Kampf gegen die gierigen und grausamen Eindringlinge. In dem nagelneuen Buch Die Intelligenz der Tiere*** steht genau das: dass Elefanten, Wölfe und Wale gut und böse, Menschen und Unmenschen unterscheiden können. Mich wundert nicht, dass die Kunst der Wissenschaft voraus ist. Das ist sie schon immer gewesen und das bleibt auch so. Mich wundert, dass in einem schlichten DDR-Kinderbuch solche Weisheiten standen. Ludwig Renn hatte sicher doppelte Narrenfreiheit, die er aber auch mit seiner Loyalität erkaufte. Als ‚Spanienkämpfer‘ stand er in einer Reihe mit Hans Beimler, Heinz Hoffmann, Erich Mielke, aber auch mit Ernest Hemingway, Willi Brandt und Joris Yvens. Er musste nichts mehr für seinen Ruf und seinen Ruhm tun. Geld hatte er auch genug. So konnte er sich seinen Freunden und seinen Kinderbüchern widmen.

Mir wurde klar, wie sehr mich dieses Buch geprägt hat, mehr als die Schule, mehr als meine Familie, mehr als die Kirche, die in meinem Heimatort aus einen autoritären Luther-Epigonen bestand, der mehr Menschen vertrieb als anlockte, einer seiner Söhne tat es ihm nach, einer wurde Mensch, der dritte nahm sich das Leben. Zu meinem großen Glück hatte ich meinen Freund Nobi zwischen zwei Buchdeckeln. Heute kenne ich einen Neubürger aus Ostafrika, dessen Lächeln alle Menschen betört und erfreut. In dem Punkt hat er es leicht. Für ihn habe ich das hier aufgeschrieben.

*Ludwig Renn, Nobi, Kinderbuchverlag Ostberlin 1955

[die ersten sieben Auflagen hießen noch: Der Neger Nobi]

**von mir vorgeschlagenen Euro-Schreibweise

***Carl Safina, Die Intelligenz der Tiere, New York 2015,

deutsche Ausgabe: München 2017

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berridraun

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Frank und frei

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