Nichts ist mit nichts identisch, auch nicht mit sich selbst. Diesen Satz würde die Hälfte der Bevölkerung unterschreiben, aber die andere Hälfte könnte aufschreien: außer mir, und mein Nachbar denkt das gleiche. Die Gruppenbildung wird heute durch die Echowirkung der neuen und für praktisch jeden verfügbaren Medien erleichtert und verstärkt. Wirft jemand seine Wahrheit in den Raum, so springt sofort jemand herzu, der sie bestätigt. Sie bestätigen sich beide und finden bald einen Dritten, der die Welt auch so sieht. Die Gruppen lesen über lange Zeiträume nur ihre eigenen Botschaften. Es wäre falsch zu sagen, dass ihre Begriffe postfaktisch wären. Sie haben mit Fakten nichts zu tun. Es sind zu Fakten stilisierte Ängste, Befürchtungen und Vorstellungen, die zu Gewissheiten werden, je mehr sie sich wiederholen.

Man begreift, wenn man die Gegenwart genau betrachtet, den Hexenwahn besser. Er war, so wie diese eigenartigen Echos heute, eine Mischung aus tatsächlicher Angst und Denunziation. Denunziation ist auch Ablenkung von der eigenen Verantwortung und von der eigenen Angst. Das ist verständlich. Aber Denunziation ist auch so ziemlich das Niedrigste, besonders wenn sie mit der scheinbaren Allmacht von Kirche oder Staat kombiniert auftritt und den Denunzierten zum hilflosen Opfer einer omnipotenten Ranküne macht. Die Denunziation im Verbund mit der Macht ist die Verschwörung, die als Projektion von den Denunzianten den Denunzierten vorgeworfen wird. Wer anders hat mit dem Teufel gebuhlt als der Nachbar oder die Nachbarin, die die Nachbarin dem Feuer oder der Vierteilung auslieferte? Hoffentlich erinnern sich die Reformationsfeierer im nächsten Jahr, dass im protestantischen Minden viermal soviel Hexen verbrannt wurden als im katholischen Köln. Es verbessert oder modernisiert sich nie alles gleichzeitig. Manches bleibt aus guter alter Gewohnheit beim alten. Fast alle der Dutzenden Abspaltungen von den Protestanten waren Fundamentalisten. Nur die zurück gehen, wissen den Weg.

Die Krise der Demokratie, nicht ihr Ende, scheint nicht auf einem Mangel an Lebensmitteln zu beruhen. Die deutsche Kanzlerin betont, dass es uns nie besser ging als gerade jetzt, aber sie trifft damit nicht das Defizit, unter dem ihre Nichtwähler leiden. Ich wohne in einer Kleinstadt im äußersten Nordosten Deutschlands. Wenn hier in einer Diskussion Kritik vorgebracht wird, dann reagiert die führende Gruppe reflexartig mit immer derselben Argumentation: aber wir haben doch das Schwimmbad, die Freilichtbühne, das Parkfest und die neue Straße. Die neue Straße ist vierzig Jahre alt, von daher kommt auch die führende Gruppe. Aber sie versucht, wenn auch mit überholten Mitteln, die Identität, oft auch Heimat genannt, zu bewahren. Dagegen werden die Kreisreformen, die es hier seit über hundert Jahren gibt, die Identitäten der Menschen immer weiter abbauen. Ein paar Jahre später jedoch besteht wieder die Chance, dass genügend Neubürger die alte Zugehörigkeit nicht mehr kennen.

Wenn sich große gesellschaftliche Systeme im Umbruch befinden, reagieren die Menschen panisch. Aber dann sollten Institutionen da sein, die die Menschen beruhigen, ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber diese Institutionen müssen sich gerade auch in diesem Moment zum Reformieren zurückziehen. Der Staat schließt gerade dann seine Luken, wenn er am meisten gebraucht wird. Wir stehen konsterniert vor dem Häuschen mit dem Schild: Geschlossen aus Betriebsablaufgründen. Aber da drinnen wird nicht nachgedacht, sondern es werden die alten Schilder neu sortiert: Politikverdrossenheit, Modernisierungsverlierer, postfaktisches Zeitalter als Ersatz für schnelllebige Zeiten. Ein Schild wurde entsorgt: Alternativlosigkeit. Am besten ist: in Zeiten wie diesen.

Aber es geht nicht darum Politiker dafür zu schelten, dass sie auch nur Menschen sind, dass sie auch nur zwei Hände und einen Kopf haben. Es ist eher erstaunlich, dass es immer wieder Menschen gibt, die es für ein bisschen Macht und bei uns in Deutschland nicht so viel Geld auf sich nehmen, ihr ganzes privates Leben zu destabilisieren, um nicht zu sagen zu zerstören. Und bei weitem nicht jeder von ihnen kommt in die Geschichtsbücher, was ein weiteres Motiv wäre. Viele verderben sich auch noch die Spanne zwischen dem Ende der Wirkmächtigkeit und dem Geschichtsbucheintrag.

Ein winziges Detail aus der jüngeren Geschichte mag veranschaulichen, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischem und politischem Wohlbefinden schon lange nicht mehr entscheidend ist. Elena Ceaucescu rief ihrem Mann, dem stürzenden Diktator auf dessen letzter, scheiternder Kundgebung zu: Gib ihnen hundert mehr, denn der Lohn war in kommunistischen Diktaturen ebenfalls vom Staat diktiert. Bekanntlich haben die beiden den Tag nicht überlebt. Die letzte Rentenreform in Deutschland hat ebenfalls keine stabilisierende Wirkung auf CDU und SPD. Bedauerlich ist, dass es keine Aussicht auf eine andere Koalition gibt. In Großbritannien haben ebenfalls die älteren Wähler dafür gesorgt, dass die Taschenlampen ausgegraben wurden, um den Weg zurück zu finden: zurück aus Europa. Ein weiteres Ergebnis des Brexit könnte sein, dass die seit 1701 bestehende Personalunion des englischen Königshauses mit dem schottischen beendet wird.

Wir können uns tatsächlich unserer Identität nur rückwärtsgewandt versichern, da niemand die Zukunft voraussehen kann. Die Industrialisierung wurde nicht nur als Bedrohung gesehen, sondern fand sogar in einer ästhetischen Bewegung die wir heute noch schätzen, ihre Begleitung, nämlich in der Romantik. Und im allgemeinen Sinne ist Romantik heute immer noch: sich aus der allzu mobilen Welt zurückziehen, eine Kerze ins Fenster stellen und am besten zu zweit träumen. Es gab vehemente Widerstände gegen die Mobilitätsschübe durch die Eisenbahn und durch das Automobil, gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung und die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Massenproduktion, der wir die Globalisierung verdanken. Es gab Proteste gegen die Amerikanisierung der Populärkultur in den zwanziger Jahren, die im Rassismus der Nazis ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Es gab in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg ein aus heutiger Sicht völlig unverständliches, fast pathologisches Festhalten an alten, absolut untauglichen Werten, die keine waren: Prügelstrafe, Zuchthaus, Ächtung, Verbote gegen Amerikanisierung, Verweiblichung, Gleichmacherei, lange Haare, enge Hosen. Jugendliche wurden in beiden deutschen Ländern als halbstark bezeichnet von Männern, die ihre Arme und Beine und den Krieg verloren hatten. Wenn James Dean im Kino weinte, schrien diese Männer in ihrem Nazijargon etwas von Verweichlichung.

Obwohl es höchst unangenehm ist, mit Trump und Frauke Petry zu leben, letztlich beunruhigend ist es nicht. Sie werden vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das familiär-politische Korruptheitsbündel der Trumps, Erdoğans und Putins dieser Welt ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es so gestrig ist und eine Identität vorspiegelt, die es nie wirklich gegeben hat.

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Silvia Jelincic

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robby

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