WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

BEETHOVEN an Struve 1795

Da erst, nachdem Beethoven seinen berühmten Satz an seinen Jugendfreund schrieb, die schlimmsten Tiefpunkte der Menschensortierung* stattfanden: nach der Conquista (und übrigens auch Reconquista) und dem Sklavenhandel, vor dem Brief, danach noch hundert Jahre Sklaverei, Holocaust, GULAG, chinesische Kulturrevolution, Rote Khmer, Völkermord an den Armeniern und den Herrero, Rassistenregime in den Südstaaten der USA mindestens bis 1963, in Zimbabwe (damals: Südrhodesien), Südafrika und Namibia, gewinnt der Satz über den Tag hinaus an Bedeutung. Wäre Beethoven der weltfremde Sonderling gewesen, als den ihn das neunzehnte Jahrhundert sehen wollte, so müssten wir dem Satz, der erst vor zwanzig Jahren aufgefunden wurde, keine Beachtung schenken.

Beethoven war aber ein hochgebildeter, belesener und interessierter Intellektueller, so wie Bach hundert Jahre vor ihm in Leipzig. Musikgenies werden oft unterschätzt.

Fast alle Begriffe, die wir heute noch für oder gegen die Menschensortierung benutzen, kommen aus der amerikanischen Sklaverei und Antisklaverei sowie aus dem europäischen Rassismusdiskurs des neunzehnten Jahrhunderts. Der für Menschen falsche Begriff der Rasse kommt aus der Tierzucht, wo er auch Sinn macht, um zu zeigen, dass Pekinese und Wolf aus derselben Art stammen (Canidae), sich aber qualitativ deutlich unterscheiden. Menschen dagegen haben zu 99% die gleichen Gene und, das berühmteste Beispiel, die unterschiedliche Hautfarbe sagt nichts weiter als die Differenz der Hautfarbe. Beethoven war durch Pockennarben geradezu entstellt, worunter er als Frauenfreund litt, aber mit seiner Musik hat das nichts zu tun.

Wie weit Beethoven mit seinem später ebenfalls berühmten Freund Struve gedacht hat, muss Spekulation bleiben.

Für uns kann es nur Grenzen des Denkens geben, die im Mangel unseres Verstandes liegen, denn wir leben in einem freien Land mit hohen Bildungsstandards und einer sehr guten Zugänglichkeit zu Wissenschaft und ihren Ergebnissen.

Wenn die Menschensortierung so willkürlich ist, dass sie vor mehr als zweihundert Jahren von Beethoven (und tausend anderen) beklagt wurde, dann ist es nicht abwegig, dass sie einen Zweck erfüllt. Es gibt immer eine Gruppe, die ihre Meinung nicht nur zum Fakt und zum herrschenden Fakt, sondern auch zum alleinigen Fakt erklärt. Vielleicht eine Million Bewohner Mittel- und Südamerikas wurden grausam ermordet, weil sie sich nicht taufen ließen. Die Taufe war also damals und dort der Ausweis der Norm, was erst Benedikt XVI. im Jahre 1993 korrigierte. Die katholische Kirche, die damals weitgehend von Verbrechern geführt wurde, konnte den Rest der ungetauften Welt einfach ausschließen, weil ihn niemand kannte und kennen konnte. Der Verdacht liegt nahe, und er ist schon oft geäußert worden, dass es gar nicht um Taufe oder Gott ging, sondern um Gold. Aber das wissen wir nur von den Menschen, die es aufgeschrieben haben, zum Beispiel von Admiral und Vizekönig Kolumbus. Es gab auch Gegner der Conquista und der Gewalt gegen Menschen. Und es gab auch immer Menschen, die die Menschensortierung, auch unter Berufung auf die Bibel, ablehnten.

Die jeweilige Ordnung wurde, um die Abstraktion weiterzuverfolgen, als alleinig mögliche, auf der vorhandenen Einteilung der Menschen beruhende proklamiert. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass es sich um ein vorher ausgedachtes Paradigma, das es nun zu verwirklichen galt, handeln könnte. Soziale Systeme entstehen mit großer Wahrscheinlichkeit evolutionär: was muss man gedanklich alles auslassen, um die Französische Revolution von 1789 als den Zeitpunkt zu erkennen, ‚wo es nur noch Menschen gibt‘?

Rousseau, der von Beethoven fleißig gelesen worden war, meinte, dass das Übel, welches uns von den ‚edlen Wilden‘ scheidet und zu den unedlen Zivilisierten macht, mit der Absteckung des ersten Besitzes begann. Das ist gleichzeitig der Anfang einer Gesellschaft, die auf Vereinbarung beruht.

Und da liegt der Schlüssel: Vereinbarungen können nur gleichgeartete, gleichberechtigte, nicht durch Hierarchie oder noch künstlichere Merkmale geschiedene Menschen getroffen werden. Natürlich hat der eine Pockennarben, der andere ist ein Musikgenie, aber die Mutter aller Probleme ist die Hierarchie. Sie mag noch gar nicht einmal als böswilliger Akt entstanden sein. Für alles gibt es große Erzählungen: und für die Entstehung der Hierarchie, der Rangfolge, mag die König-David-Geschichte heute noch rühren.

Die Israeliten waren von einem monsterähnlichen Feind belagert, der König versammelte alle Männer und fragte, wer sich dem Ungeheuer entgegenzustellen wagen würde. Just in dem Moment kam der kleine Hirtenjunge David um die Ecke, der seinen großen Brüdern das Essen bringen sollte. Er setzte seinen Verstand statt bloßer – und ihm auch noch fehlender – Heldenstärke ein und wurde zum Helden und König, übrigens durch Heirat der Königstochter. Aber das ist kein Märchen.

Aber warum scheitern seitdem alle Versuche, Leistungen zwar anzuerkennen, aber daraus keine Hierarchie zu konstruieren? In vielen Geschichtsbüchern wird das westeuropäische Adelssystem der Primogenitur gern mit dem russischen, in dem alle Söhne erbten, und dem türkischen verglichen, das fast lupenreiner Nepotismus war. Bevor man aber seine Söhne und Neffen, daher der Begriff Nepotismus, einsetzen konnte, musste man seine Brüder als Konkurrenten ermorden, später wegschließen, daher kommt der Begriff des goldenen Käfigs. Sultan Mehmet III. ließ seine neunzehn Brüder nach der Beschneidung erdrosseln. Einer fragte, ob er seine Kastanien vorher noch zuende essen könne. Das Adelssystem, obwohl es zeitweise auch sehr erfolgreich war, ist insgesamt schlimm gescheitert.

In den beiden Weltkriegen, die die Adligen verloren, verloren sie zugleich Anstand und Einfluss, nicht jedoch ihren umfänglichen Besitz, wie man heute noch auf Adelstreffen, -hochzeiten und -taufen bewundern kann.

Muss man wirklich täglich daran erinnern, dass auch alle Diktaturen, mithin alle autoritären Systeme einschließlich der Monarchien, gescheitert sind? Seit der Antike ist bekannt, dass auf Aristokratie, die Herrschaft der Besten, die Ochlokratie folgt, die Herrschaft des Pöbels. Man erkennt ihn am Pöbeln. Jeder Protest und jede Frage ist erlaubt, aber wie kann man glauben, dass es nur einer Autorität bedarf, um die Welt wieder in die Fugen zu rücken. Die Welt ist gar nicht aus den Fugen, weil sie nicht durch einen Plan erbaut wurde, etwa wie ein Haus und jeder andere Artefakt, sondern weil sie evolutionär entstanden ist, Stück für Stück, immer in Chaos und Schlamm. Das berühmte Zitat** ist nicht nur ironisch gemeint, sondern findet seinen Schlüssel im überforderten ICH des armen Hamlet, der glaubt, dass er die Welt einrenken muss, das ist der Fluch des Adels. Wo und wann wäre denn die Welt in den (und wenn dann in welchen) Fugen gewesen?

Verstärkt durch die technischen Kommunikationsmittel kann heute jede und jeder seine Kommentare zu jedem Ereignis abgeben. Wäre es nur so, würde es niemanden stören. Aber sobald einer etwas zu wissen glaubt, bestätigen es ihm seine Rechtgläubigen, und die Häretiker schreien Contra und Zeter und Mordio. Alle Hoaxes über Viren als biologische Waffen der Amerikaner, der Israelis, des Weltjudentums, der Russen und Nordkoreaner erwiesen sich selbstverständlich als falsch. Als die bösartige Schuldzuweisung gegen die USA in bezug auf AIDS die globale Runde machte, lebte ich in einem Land, in welchem dem Hoax schadenfroh zugestimmt wurde, zumindest als wahrscheinlichste Möglichkeit.

Muss man wirklich täglich daran erinnern, dass es weder eine Weltregierung noch eine Weltantiregierung gibt. Leider ist es mühevoll, einen internationalen Vertrag auszuhandeln, und mancher Vertrag wird durch einen Federstrich zunichte gemacht. Leider sind internationale Erleichterungen nur gegen den oft hartnäckigen Widerstand hartgesottener Nationalisten zu erreichen, die sie, wenn sie wieder einmal an die Macht kommen, wegwischen. Manche Nationalisten glauben, dass Globalisierung die Gegenstrategie zum Nationalismus sei. Sie fragen, ob sie Rassisten seien, wenn sie gegen Masseneinwanderung aufträten. Sie bemerken scheinbar nicht, dass sie ihre Ablehnung der Einwanderung rassistisch begründen und dadurch eben doch Rassisten sind.

Manche von ihnen benutzen das gleiche Argumentationsmuster wie Graf Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und Adolf Hitler: ,man sähe doch in der Tierzucht, wie gut Rassismus sei‘. Entstehen edle Pferderassen, fragt allen Ernstes Chamberlain, dem schon sein Zeitgenosse Virchow den gesunden Menschenverstand absprach, etwa durch Promiskuität?

Ein Krieg, auch ein Handelskrieg, ist schnell gemacht. Aber seine meist negativen Folgen reichen in die nächsten Jahrhunderte und treffen immer auch den Verursacher.

Leider stehen wir alle im Moment nackt da: ohne Idee. Vielleicht ist die Zeit der guten Ideen, die ein halbes oder gar ganzes Jahrhundert wirken, vorbei. Vielleicht unterliegen wir, die wir an Ideen glauben, demselben Irrtum wie jene, die an Personen glauben, und es gibt sie nicht mehr. Vielleicht wird in späteren Geschichtsbüchern stehen, dass die Menschheit drei Phasen durchlebte, die Phase der Führer vom Schlage Davids, die Phase der Ideen von der Art der Aufklärung, und die Phase x von der Sorte, die wir noch nicht kennen.

Der Urvater der Rassisten, Graf Gobineau, gab seinen Anhängern am Schluss seines immerhin sechsbändigen Essays ‚Über die Ungleichheit der menschlichen Rassen‘ (1855) eine später viel bewunderte und viel gescholtene Formel auf den Weg:

„Die Nationen, nein, die menschlichen Herden, in dumpfer Einsamkeit dahindämmernd, werden fortan gefühllos in ihrer Nichtigkeit dahinleben, wie wiederkäuende Büffel in den stehenden Pfützen der pontinischen Sümpfe.“

Von Rousseau dagegen, dem verschrobenen Urahn der Demokratie, stammt die unverwirklichbar und kompliziert erscheinende Formel (1762), die von Zeit zu Zeit verworfen wird: „Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des Allgemeinwillens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“

*Segregation

**The time is out of joint

O cursed spite

That ever I was born

To set it right

Shakespeare, Hamlet, I,5

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
4 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Frank und frei

Frank und frei bewertete diesen Eintrag 15.03.2020 16:02:22

2 Kommentare

Mehr von rochusthal