Erinnern Sie sich?

Früher waren die Winter viel kälter.

Als ich meine Tochter nach der Geburt nach Hause brachte, hatten wir 14 Grad unter Null.

Ihr Vater hatte geheizt, den ganzen Morgen lang. Alle Öfen liefen auf Hochtouren. Aber als wir sie zum ersten Wickeln auspackten, lag das kleine Ding da und ... zitterte.

Wir beide hatten Angst, dass wir sie nicht durchbringen würden. So viel Verantwortung. Und wir fielen uns in die Arme und weinten.

Ein Jahr später, als uns alles bereits um die Ohren flog, verbrachten wir die Weihnachtsfeiertage schon nicht mehr zusammen.

Nach einigen Tagen anderswo war die Wohnung auf 3 Grad Plus herunter gekühlt, was bei 25 Grad Minus draußen doch noch ganz ordentlich war. Und ich brauchte einen ganzen Tag, um auf 15 Grad zu kommen.

Während das Kind warm eingekuschelt in seinem Bett verpackt war, saßen meine Freunde und ich da und tranken den selbst gemachten Rumtopf (Himbeer, Pflaume, Birne) je 50:50 mit heißem Tee und wärmten uns unter einer Decke.

Es war schön, so gemeinsam immer wärmer zu werden, von innen und von außen.

Vier Jahre vorher war ich noch mit dem anderen zusammen gewesen. In einem eben so kalten Winter.

Als die Frauen noch glaubten, die Befreiung käme aus dem Minirock. Der nichts anderes als einfach nur scheißkalt war.

Meine Schneiderin bekam, wider alle anderslautenden Empfehlungen, die Weisung, einen Maxirock aus einem Wollstoff zu machen. Was sie, wenn auch widerwillig, tat.

Meinem Freund gefiel es nicht, mit einer so anders als die anderen ausschauenden Begleiterin daher zu kommen.

Er maulte. Was mich nachdenklich machte. Und auch nicht versöhnlicher stimmte, als er irgendwann sagte: "Dann ziehst du deinen schönen langen Rock an und wir ..."

Kurze Zeit später war es mit ihm vorbei.

Im Jahr darauf tauchten immer mehr Maxiröcke und -kleider im Stadtbild auf.

Was noch einmal passierte, als ich anfing, diese Folklorekleider zu tragen (inzwischen hatte ich selbst nähen gelernt).

Sie machten es verächtlich und taten es eine Saison später selbst.

Das Gleiche passierte noch mit der Bäckerhose und den weißen Turnschuhen und mit manchem mehr.

Wenn ich nachts, nach Vollzeitjob und Lernzeit fürs Studium, an der Nähmaschine saß, fragte ich mich, was wohl aus mir hätte werden können, wäre ich anderswo als in der DDR groß geworden.

Offenbar besaß ich ein Gespür für Trends.

Später interessierte mich das nicht mehr.

Es ist nur wichtig, dachte ich mir, sich wohl in der eigenen Haut zu fühlen. Das Richtige für sich selbst zu tun.

Aber der Gedanke an den SCHWARM blieb unterschwellig doch: Was, wenn der Schwarm keine Vorschwärmer hätte? Wo schwärmte er dann hin?

Gesetzt den Fall, es gäbe nur Nach-Schwärmer: Wo blieben sie, wenn keiner ihnen voran ginge?

Manchmal hoffe ich, dass ich nicht nur Modetrends sehen kann, sondern auch andere.

Und meistens denke, dass es egal ist, was andere denken und tun, weil ich von meinem Weg sowieso nicht abweichen kann.

Mögen sie es so verächtlich machen wie auch immer.

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Übrigens: Meine Tochter ist inzwischen neununddreißig.

Es geht ihr gut.

Ich habe sie durchgebracht.

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Petra vom Frankenwald

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susi blue

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