Drecksack ... oder: Reisen, ohne wegzumüssen

Ich erfuhr von ihm aus meiner Wochenzeitung, die sich gerne von dem fern hält, was in anderen Zeitungen steht.

Und ich staunte, denn ich dachte: So etwas gibt es doch nicht mehr.

http://www.edition-luekk-noesens.de/

Diese Art Künstler sind mit Bukowski und Basquiat ausgestorben. Dieses künstlerische Lebenscredo, das Ingeborg Bachmann als „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ formulierte, sei eine Sache von gestern. Denn keiner will heute die Wahrheit noch so genau wissen. Und jene, die Kunst schaffen müssen um jeden Preis und quasi nebenher Lebenserhaltung betreiben, will heute keiner mehr sehen. (Es sei denn, sie wären selbst das Kunstwerk, würden sich Conchita Wurst nennen, medienwirksam Schönheit und Sanftheit zum Programm machen und in den richtigen Fernsehsendungen auftreten. Conchita in der Fischfabrik wollte auch keiner sehen.)

Die Schöpfer dieser Art von ehrlicher Kunst sind bezeichnenderweise Autodidakten. Sie folgen keiner künstlerisch vorgeschriebenen Form und leben am Rande der Gesellschaft. Sie arbeiten als Totengräber, Bauhelfer usf. und beginnen erst dann aufzublühen, wenn sie das Leben nicht nur leben, sondern darüber schreiben, es malen oder sich anderweitig künstlerisch ausdrücken können. Sie haben, das liegt in der Natur der Sache, nie mehr Geld als sie dringend brauchen (eher oft weniger) und kennen die Urgründe der menschlichen Gesellschaft, von denen unsereiner sich gern fernhält.

So genau wollen wir es dann doch nicht wissen. Und sollte uns ihre Kunst unterkommen, erleben wir sie mit diesem schönen Schauer, der bestenfalls wohlwollend zugesteht, dass auch im Hässlichen eine gewisse Ästhetik liegt. Aber meistens mögen wir ihre Kunst nicht, weil wir nicht glauben mögen, dass es so etwas tatsächlich gibt. Da muss dann meist erst ein anerkannter Verleger, Kurator oder so etwas kommen und uns mitteilen, dass das da wirklich und wahrhaftig Kunst ist, weil darin der Schmerz der Welt steckt.

Dass Florian Günther (*1963 in der DDR) dieses Konstrukt der anerkannten Kunst nicht brauchte, ist erstaunlich und zeugt von großem Mut. Sich hinstellen und sagen: „Das kann ich selbst und ich mache es jetzt.“ - beachtlich. Denn so viele reden vom gelebten Traum, aber nur wenige leben ihn tatsächlich.

Günther hats getan und betreibt seit 2010 eine eigene Literaturzeitung („Drecksack“), die - man höre und staune! - tatsächlich Absatz über seinen eigenen Wirkungskreis hinaus findet. (Die letzte Ausgabe ist bereits vergriffen.)

Ich habe mir seinen Fotoband „Reisen ohne Wegzumüssen“ mit nicht allzu großen Erwartungen geordert. Schon der Mut, solcherart Initiative zu entwickeln, fand meine Hochachtung, egal, wie das Resultat ist. Und nun, schon nach einem Tag, halte ich dieses 300 Seiten starke Kunstwerk, das anderen Bildbänden in nichts nachsteht, in der Hand. Die Fotos - schwarz-weiss - sind ganz und gar nicht hässlich, sondern haben auch in der Dokumentation der Armut (eine Reihe Bilder zeigen die Brasilienreise, die G. sich mühsam zusammensparte) eine Würde, die ihresgleichen sucht. (Es kann davon ausgegangen werden, dass sich für die arme Bevölkerung Brasiliens seit damals nichts zum Besseren geändert hat.)

Und ich liebäugele noch mehr mit seinen Gedichten, die so bodenständig und angenehm direkt sind.

Am Limit

Es war Nacht. Und

da saßen wir uns nun

bei Kerzenlicht

in ihrer Küche gegenüber.

Können wir

nicht Freunde sein,

Fridolin?

Ich schüttelte

den Kopf.

Nein?

sagte sie.

Ich kann dich

lieben, sagte ich.

Aber mehr

ist nicht drin.

Angesichts dessen, sage ich mir, wünschte ich mir ein bisschen mehr „Drecksack“ in jedem von uns. Himmelblau und rosarot kann schließlich jeder träumen, aber wahr ist es fast nie.

Kundschaft

Manch einer will die

harten Sachen.

Den nackten Schrei,

roh und brutal wie

ein Verkehrsunfall mit

Toten.

Ein anderer hat es

gern subtil

und zwischen den

Zeilen. Weder klar noch

deutlich. Stets

ein bißchen hintenrum.

Und ein dritter

sucht den hohen Ton.

Das Prätentiöse.

Den ausgestreckten

Zeigefinder

in der Wunde.

Doch sie alle sind

nur Kunden.

Auf der Suche nach

sich selbst

durchwühlen sie

deine Zeilen

wie einen Korb voll

schmutziger Wäsche.

Und wenn sie

sich nicht finden, bist

du schuld.

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Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 01.06.2016 23:18:12

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