Als mir neulich meine (Groß-)Tante Paula einfiel, hat sie mich auf eine Reise mit genommen.

Das ist typisch für sie. Selbst viel herum gekommen, hatte sie oft viel zu erzählen. Auf eine ganz trockene und sehr preussische Art und Weise.

Manchmal steckten in zwei Sätzen ganze Romane. Und manchmal steckte in einem einzigen Wort die Geschichte einer ganzen Emanzipation.

Tante Paula war die erste alte Dame, die ich "Scheiße" sagen hörte. In den Sechzigern war das und damals nicht nur für alte Damen nicht üblich, sondern ganz und gar unmöglich. Seltsamerweise klang das bei ihr weder obszön, noch sonst irgendwie schmutzig, sondern ganz genau so wie heute bei uns. Eher beiläufig und als ganz natürlicher Ausdruck für Missfallen an was auch immer. Dass ihre Schwester Rosl, meine Großmutter, sie stets dafür maßregelte, quittierte sie jeweils mit einem sowohl charmanten, als auch geschwisterlich kecken Klaps auf deren Arm: "Stell dich nicht so an, Rosl!"

Paula, geboren 1899, war schon immer ein wildes Ding gewesen. Das reimte ich mir aus Diesem und Jenem über die Jahre langsam zusammen.

Sie, ebenso wie die zwei Schwestern, war vom elterlichen Bauernhof in die Stadt geschickt worden, um Hauswirtschaft zu lernen. Was nicht nur gut für eine eventuelle Heirat war, sondern auch für den Fall, dass sich kein Ehemann fände. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg gab es durchaus einen Mangel an Männern im heiratsfähigen Alter. Da war es gut, wenn Frau sich selbst durchbringen konnte. Denn so viel warf der kleine Hof dann doch nicht ab, dass er drei Töchter hätte ernähren können.

Der Plan ging auf: Zwei der drei Töchter, Paula und Rosl, kamen nicht nach Hause zurück, sondern landeten praktisch direkt im städtischen Hafen der Ehe.

Rosl naturgemäß, denn sie war vier Jahre jünger, ein paar Jahre später.

Im Gegensatz zu Rosl bekam Paula nie Kinder, obwohl ich sie mir als Mutter, Groß- und Urgroßmutter wunderbar hätte vorstellen können. Die lieben Kleinen hätten an ihr ihre helle Freude gehabt!

"Es hat nicht sein sollen.", erklärte sie zuweilen, war aber im Laufe der Zeit so unglücklich nicht mehr.

Während also Rosl am heimischen Herd die zwei Kinder großzog und tat, was Frauen damals eben so taten, machte Paula ganz andere Sachen. Sie mag sich damals so nicht genannt haben, aber sie war es: ein Flapper, also eine von den frechen jungen Frauen mit kurzen Röcken, Bubiköpfen und ohne Korsett, die Charleston tanzten, rauchten, Alkohol tranken und sich schminkten.

Und auch, wenn eine Vielzahl der Leute dachte, dass diese Mädels ganz lose Geschöpfe waren, die keine Grenzen kannten, wusste Paula schon, was sich gehört.

Sie heiratete einmal.

Und wurde eine der frühen Kriegerwitwen.

Sie heiratete ein zweites Mal.

Und sah ihren Mann beim sonntäglichen Bade im See ertrinken.

(Die Geschichte geht noch heute durch unsere Familie: Er, vom Wasser aus, winkte ihr zu. Sie winkte fröhlich zurück. Und dann war er weg. Herzinfarkt beim Schwimmen. Wer hätte das auch ahnen können?)

Woran der Dritte gestorben ist, ist mir nicht überliefert.

Paula, nach jeweils angemessener Trauerzeit, war in ihrem Optimismus unbeirrbar.

Ein viertes Mal hat sie nicht geheiratet, nur noch hier und da einen Freund gehabt.

Vielleicht war sie es leid, die geliebten Männer unter die Erde bringen zu müssen?

Vielleicht war der Topf ihrer großen Liebe zur Neige gegangen?

Wer weiß?

Zuletzt sah ich Tante Paula bei der Beerdigung meiner Großmutter, wo sie - ganz wie immer - auf ihre charmante Art Dinge sagte und tat, die da nicht hin gehörten, aber in meinem Zweig der Familie durchaus für Erheiterung sorgten.

Da war sie schon über achtzig und sah nichts mehr, was sie für gewollte Verwirrung ausnutzte. (Sie wusste ganz genau, was sie tat!)

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Und wo ist jetzt die Reise?, wird sich mancher fragen, dem diese Lebensgeschichte nicht genug ist.

Diese meine Reise ist eine ganz profane ins Reich der Erkenntnis gewesen.

Auf der Suche nach den Flappers nämlich stieß ich auf das allererste IT-Girl, das es je gab: Clara Bow.

AFP / Paramount / The Kobal Collection

http://de.wikipedia.org/wiki/Flapper#mediaviewe/File:Clara_Bow_Brewster_1921.PNG

Und ich erfuhr, dass dies die Hauptdarstellerin des Filmes IT aus 1927 nach der Romanvorlage von Elinor Glyn war.

Und auch, dass IT schlechterdings für ES steht. Damit auch die etwas langsamen Deutschen (sone wie ich) verstehen, was gemeint ist, hieß der Film in Deutschland "Das gewisse Etwas".

Womit geklärt wäre, dass heutige IT-Girls nur noch so heißen. Dem Anspruch werden sie beileibe höchst selten gerecht.

Meine Tante Paula aber, dafür stehe ich!, DIE hat es gehabt!

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fischundfleisch

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Marian Eisler

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