"Konzentrieren Sie sich auf eine Rosine."

(Wo krieg ich rasch eine Rosine her?)

"Wenn Sie keine Rosine haben, kann es auch ein anderer Gegenstand sein. Konzentrieren Sie sich auf die äussere Ansicht, die Konsistenz, den Geschmack."

(Ich greife nach dem Rest vom mittäglichen Fischfilet. Seine Kruste ist schon leicht verschrumpelt. Aber im Mund knackt sie noch. Der Fisch schmeckt, nunja, nach Fisch. Heute Mittag schmeckte er natürlich besser.)

"Werten Sie nicht! Nehmen Sie einfach wahr."

(Ups!)

"Am Anfang kann es passieren, dass Ihre Gedanken abschweifen. Zum Beispiel dahin, dass Sie Schokolade mehr mögen als Rosinen. "

(Bei Knusperkruste fallen mir eher Waffeln ein.)

"Dass die Pralinen, die Ihre Kollegin neulich zur Besprechung mitbrachte, nicht so besonders gut schmeckten. Dass die Besprechungen immer sinnentleerter werden."

(Darüber denke ich schon lange nicht mehr nach.)

"Wenn Ihre Gedanken abschweifen, ist das nicht schlimm. Bei steter Übung werden sie das immer seltener tun."

(Ich sitze auf dem Balkon. Es ist wärmer geworden, angenehm genug, um da zu sitzen. Leichte Federwolken ziehen über mir. Unter ihnen, aufsteigend, ein roter Fleck. Mit Brille erkenne ich, dass es ein Herz ist. Ein rotes Luftballon-Herz. Es steigt gen Himmel, vom Winde geschaukelt und doch zielstrebig. Immer weiter nach oben. Herz in den Wolken.

Als es verschwunden ist, sehe ich am Horizont etwas anderes. Ein Vogel? Nein, ein Segelflieger, der gemächlich seine Runden zieht. Ich bewundere ihn inmitten der treibenden Wolken. So ruhig.

Links tut sich ein Wolkenloch auf. Dahinter lässt sich die Sonne erahnen. So spät schon? Ich schaue auf die Kirchturmuhr. Spät genug. Aber nicht zu spät. Alles ist gut.

Ich atme.

Tief.)

"Im Buddhismus werden die abschweifenden Gedanken auch wilde Affen genannt.

Einst kam ein Heiliger in ein entlegenes Dorf. Die Bewohner, die nur selten auf Fremde trafen, fragten ihn, was es mit der Meditation auf sich habe.

Der Heilige ging mit ihnen an einen Brunnen und warf einen Stein hinein. Dann fragte er sie, was sie sähen.

Sie schauten in den Brunnen und sahen nichts, weil das Wasser von dem Stein Wellen schlug. Das sagten sie ihm.

Er nickte und forderte sie nach einer Zeit auf, noch einmal hinein zu schauen.

Da antworteten sie, sie sähen sich selbst.

Und nach noch einer Weile sollten sie nochmals in den Brunnen schauen, ganz genau.

Da antworteten sie, sie sähen bis auf den Grund des Brunnens."

(Ich sehe weder mich selbst, noch auf irgendeinen Grund. Ich sehe noch immer Wolken, die ziehen. Keine Affen.)

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