Ich habe geträumt von Zuckerschnecken.

Zwei Daumen dick, mit Streuseln drauf und einem Zuckerguss, der die Schneckenwindung und Streuseln nurmehr ahnen ließ. So dick war der.

Es war Sonntag und die Famile rüstete sich zum Ausflug. Weisse Söckchen, Sandalen, ein rosa Kleid und der Bahnhof. Nicht so ein Mitropa-Zeugs, sondern fein. Man geht hin, um die Sonntagsgarderobe auszuführen und sich an der Kühle unter der hohen Bahnhofskuppel zu laben. Irgendwo im Hintergrund schnaufen Dampfloks.

Und während ich förmlich die Knusprigkeit der ofenfrischen Zuckerschnecke zwischen den Zähnen knacken höre, denke ich an meine Kindheit.

Solche Bahnhofsrestaurants kenne ich ja nur aus Ungarn. Überall anders haben sie den Charme tatsächlich von Mitropa. Alles ein bisschen billig, ein bisschen schmuddelig (einschließlich der Kellner, die nicht so ganz weiße Kochjacken trugen und vermutlich auch in der Küche mittaten.)

Nicht so dieses eine in Budapest am Westbahnhof (Nyugati pályaudvar ), das eine Pracht hatte, wie sich ein junges Mädchen die Wiener Caféhäuser vorstellt. Nur größer, höher, lichter.

Kellner wie Könige, die Frauen noch den Stuhl zurechtschoben, und an eigens dafür gemachten Ständern hingen Tageszeitungen auf eine Holzleiste gezogen, so dass man sie wie ein Buch blättern konnte.

„Kérem Szépen!“ (Da wusste man nicht, ob ihnen die gefühlten zwanzig „e“ oder der natürliche ungarische Charme das breite Lächeln auf die Gesichter trieb.)

Und während man auf die Karte, das Getränk etc. wartete, lag in der Luft ein Duft von Fekete und Gurkensalat. (Unter Fekete lese ich im Wörterbuch nurmehr alles, was schwarz ist bis hin zum Schwarztee. Nicht jedoch diesen Kaffee in winzigkleinen Tassen, der in diesen kleinen Maschinen von unten her bedampft und nicht von oben betropft wurde. Gibt es den heute nicht mehr???)

Ich erinnere mich: Ich war zwölf, mit den Eltern in Budapest unterwegs, die mich behüteten wie ihr Augäpfelchen, denn da schauten schon junge Männer von Anfang zwanzig nach mir. Heute frage ich mich, ob das an den Hotpants lag oder an den (echten) Korkenzieherlöckchen, die ich vor kurzem erst bekommen hatte, als wollte mich die Natur der Männerwelt erst richtig schmackhaft machen. („Wie eine Madonna!“, sagten die Bekannten meiner Eltern mit wohlwollendem Blick.) Wir standen an der Straßenbahnhaltestelle, warteten. Die Bahn kam, ich stieg ein und sah erst angesichts der sich schließenden Tür, dass die Eltern draußen noch am Diskutieren waren. Durchaus ein braves Kind, zögerte ich einen Moment lang, was ich tun sollte, denn ich hatte kein Geld zum Bezahlen der Fahrt. Sehr schnell entschied ich: Wenn schon, dann richtig schwarz fahren. Und ich wusste ja, wohin wir wollten: Eben zum Westbahnhof. Also fuhr ich die vier oder fünf Stationen und wartete, wartete, wartete …

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Schließlich verlor ich die Lust, an der Haltestelle zu warten. Drüben, über die Straße, war dieser wunderschöne Bahnhof und … Schatten. Sehr viel später, ich war am internationalen Zeitungsstand hängen geblieben – riß mich jemand rum (jetzt gibt’s eine Backpfeife, dachte ich, und auch Mutter schien in dieser Sache gespalten), hielt mich einen Moment lang an den Oberarmen, um mich sogleich zu umarmen. (Gottseidank! Kind war nichts passiert.)

Das war der Tag, ab dem ich immer einen Hundert-Forint-Schein bei mir hatte. Was eine Menge Geld war zu dieser Zeit.

Und ich erfuhr auch, warum es so lange gedauert hatte, dass meine Eltern mich fanden: An jeder Haltestelle waren sie ausgestiegen und hatten nach mir Ausschau gehalten, mussten jedes Mal auf eine neue Bahn warten und wurden jedes Mal verzweifelter.

Ich, hoch erstaunt, fragte nur, warum ich „irgendwo“ hätte aussteigen sollen, wo ich doch wusste, wohin es geht.

Ich fühlte mich unterschätzt, was ich als Jüngste wohl immer auch war. Das Nesthäkchen halt, das man angesichts der quasi-erwachsenen anderen Kinder immer für ein bisschen fürsorgebedürftiger hält als es tatsächlich ist.

Aber all diese Gedanken kamen mir erst, nachdem ich aufwachte.

Im Halbschlaf murmele ich: „Zuckerschnecken“.

Ja, ich hab geträumt von Zuckerschnecken.

Und weil ich keine habe, tuts auch ein Gurkensalat.

Und dazu einen Klecks von dem Gulasch, das ich heute mittag kochte und das schon sehr etwas Ungarisches hat.

(Für Mutti, die vorgestern 94 geworden wäre.)

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Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 08.05.2016 20:11:08

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