Sie hieß Lydia und sie war ein Zigeunermädchen

Wir waren beide 8 Jahre alt und besuchten gemeinsam die Grundschule, nur verschiedene Klassen.

Ich weiß nicht mehr, wann sie kam, auch nicht genau, woher (es könnte Jugoslawien gewesen sein). Plötzlich war sie da. Sie bewohnte mit ihren Eltern und ihren Brüdern eine kleine Wohnung ebenerdig, gleich in unserer Nähe.

Meine Eltern verboten mir, mit Lydia zu spielen, doch wie das so ist mit verbotenen Dingen: Sie üben einen besonderen Reiz aus.

So wurde Lydia zu meiner besten Freundin.

Lydia hatte kurzes, schwarzes Haar und ein lustiges Gesicht. Der Schalk saß ihr immer in den Augen und wenn sie lachte, taten sich Grübchen in ihren Wangen auf.

Lydia zeigte mir, wie man auf Bäume und Garagendächer klettert, sie zeigte mir, wie man als Mädchen cool Fußball spielt, ohne von den Jungs verlacht zu werden, wie man nicht weint, wenn man den Ball an den Kopf bekommen hat.

Im Vergleich zu ihr war ich eine verwöhnte Göre, etwas blass im Gesicht und immer unter Obhut meiner Eltern stehend, die sich leicht hysterisch zeigten, wenn sie mich wieder mal mit Lydia erwischt hatten.

Lydia meinte, sie müsste mich beschützen. So tauchte sie oft aus dem Nichts auf, wenn sich Zoff mit den anderen Kindern im Park anbahnte. Sie war da und stellte sich hinter mich. Meist war das schon ein Signal an die anderen, den Streit nicht eskalieren zu lassen. Lydia war auch bereit, sich mit den Jungs zu prügeln, wenn es der gemeinschaftlichen Ordnung diente.

Lydia war ein Pfundskerl. Eines Tages war sie weg. Die ganze Familie war weg. Der Aufbruch muss überstürzt erfolgt sein, denn ich konnte sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr finden und sie konnte sich auch nicht verabschieden.

Ich kannte nie ihren Familiennamen. Die Suche war zwecklos.

Viele Jahre später hatte ich wieder eine Roma als Freundin. Sie hieß Romana, ihr Familienname war ungarisch.

Romana war sehr hübsch, sie hatte eine tolle Figur und sie hat mich in der Art, wie sie Freundschaft hielt, stark an Lydia erinnert. Beide vertraten den Ehrenkodex, Freunde nie im Stich zu lassen.

Unzählige Vormittage haben wir gemeinsam Kaffee getrunken und eine Modenschau vor der Spiegelwand in ihrem Wohnzimmer abgehalten.

Romana lieh mir oft ihr Auto, wenn ich mit meinem hängengeblieben war, was für mich der absolute Vertrauensbeweis war.

Wir wohnten in einem Dorf nahe der Grenze, sie wohnte mit ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter zusammen.

Eines Tages war auch Romana weg. Das Haus blieb leer zurück. Die Eigentümerin des Hauses konnte mir nicht sagen, wohin die Familie verschwunden war. Kein Wort, keine Nachricht. Kleidung und Spielzeug der Tochter waren im Haus zurückgeblieben.

Manche, die dachten, ich sei eine von ihnen, werfen mir heute vor, dass ich nicht solidarisch wäre.

Es kann keine Solidarität mit Hass und Menschenverachtung geben. Es kann auch keine Solidarität mit blinder Vorverurteilung und Schubladisierung von Menschen geben.

Stattdessen würde ich gerne Lydia und Romana heute meine Solidarität ausdrücken. Ich würde gerne aus ihrem Mund hören, was sie zu der aktuellen Situation im Land sagen.

Aber sie sind gegangen, bevor die Gewitterwolken heraufzogen. Ich kann sie leider nicht mehr finden.

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