Der politische Selbstmord an den Urnen

Von Wahl zu Wahl beobachte ich immer das gleiche: Als links und systemkritisch und was-weiß-der-Henker-noch sich verstehende Leute versemmeln das Wahlergebnis. Und zwar nicht deswegen, weil sie alle lediglich pseudo-links, pseudo-systemkritisch oder pseudo-was-weiß-der-Henker-noch wären, sondern deswegen, weil sie tatsächlich links etc. pp. sind. Versemmeln können sie es, weil sie so wenige gar nicht sind.

Vier Jahre lang nörgeln und meckern sie an den Parteien rum, weil diese eine Politik machen, gemacht haben und machen werden, die unter aller Kanone ist. Der Wahltag rückt näher und es wird immer wahrscheinlicher, daß die linken, systemkritischen Leute wie gehabt SPD, Grüne oder gar FDP wählen. Die ganz besonders Schlauen wählen gar nicht oder rufen gar zum Wahlboykott auf. Hu, was sind wir kritisch!

Gibt’s da nicht noch eine Alternative zu SPD, Grünen oder gar FDP? Richtig, die LINKE. Aber, bitte, liebe Leute, die LINKE kann man nun wirklich nicht wählen. Die haben dies und das und noch viel mehr in ihrem Programm, mit dem ich nicht so ganz und hundertprozentig einverstanden bin. Bevor ich eine Partei wähle, mit der nicht so ganz und hundertprozentig einverstanden bin, wähle ich lieber eine, von der ich nur zu genau weiß, daß sie mich enttäuschen wird.

Der grundlegende Mechanismus der Neurose besteht darin, daß der Neurotiker (der unter seiner Neurose leidet wie ein Hund) lieber das vertraute Elend wählt (das neurotische Verhalten nämlich), als eine Alternative, von der er nicht weiß, wie sie genau aussehen wird. Hu, diese Ungewißheit. "Warum, Moses", murrten einst die Alten Israeliten, die in der Wüste des Sinai Hungers litten, "hast du uns weggeführt von den Fleischtöpfen Ägyptens?" In Ägypten waren sie Sklaven gewesen, Moses hatte sie in die ungewisse Freiheit geführt. Freiheit tut manchmal weh. Ach, wie schön war dagegen Ägypten, wo die Peitsche des Aufsehers auf unsere Rücken knallte, wir aber immer wußten, daß es morgen so sein würde wie heute.

Von SPD und Grünen weiß ich aus gründlicher Erfahrung, daß sie mich verarschen werden, von der FDP sowieso, unklar bleibt lediglich Art und Ausmaß der Verarsche, aber damit kommt auch ein Neurotiker klar. Das Grundgesetz des Neurotikers lautet: Keine Experimente!

(Das Plakat ist Original 50er Jahre. Alda ischwör!)

Alles muß anders werden, die Situation ist unerträglich, aber ändern darf sich nichts.

Stünden die LINKEN kurz vor der Kanzlermehrheit, so müßte ich mir freilich ihr Parteiprogramm näher anschauen. Wir alle wissen, daß dem nicht so ist, Gregor Gysi (wie heißt der aktuelle Kanzlerkandidat der LINKEN?, scheiß drauf) als Bundeskanzler ist nicht das Problem der Stunde. Wir alle wissen aber auch, daß jede Stimme für die LINKEN ein Signal ist. Und, sehet, das Signal lautet: Wir sind nicht einverstanden damit, was uns CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne Tag für Tag vorsetzen. Wir wollen eine Alternative. Wir wissen alle nicht, wie sich die LINKE entwickeln würde, wenn sich ihr Stimmenanteil steigern und steigern würde. RI-SI-KO!

Die LINKE führt uns vielleicht in den Abgrund (ich glaub's ja eher nicht, aber nehmen wir es meinetwegen mal an), die anderen Parteien tun das mit Sicherheit (wir wissen es alle, links und systemkritisch, wie wir sind).

Kann mir einer sagen, wieso einer, der noch für ein Fünferl ein Hirn hat, die LINKE nicht wählen sollte?

Und kann mir einer erklären, wieso Nichtwählen ein aussagekräftiges Signal sein soll. Wenn ich nicht wähle, sende ich ein ausgesprochen diffuses Signal. Liege ich mit Fieber im Bett und bleibe deswegen daheim? Geht mir Politik am Arsch vorbei, weil mir sowieso alles am Arsch vorbei geht? Habe ich Politik nicht kapiert, weil ich sowieso nichts, aber auch rein gar nichts, kapiere?

Die reflektierten Nichtwähler pflegen und salben ihre kostbare Seele. Hu, ich kann mich nicht entscheiden, weil ich sooo sensibel bin. Weil ich so sensibel bin, lasse ich mich lieber von Kuhfladen zuscheißen, als zwischen Viertel-, Halb- oder Vollkacke einen Unterschied zu machen.

Wir wissen es im Grunde alle, daß zwischen äußerster Sensibilität und stumpfester Dumpfheit nur ein Schrittlein liegt.

Ich könnte schreien vor Wut!

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