Die Sau durch‘s Dorf treiben 2023.0

Sie war am Sonntagmorgen verstört aufgewacht. Hatte sie eine Stunde zu lange geschlafen oder war sie zu früh erwacht? Sie überlegte, wie schon die letzten 40 Jahre zuvor, wie das mit der Zeitumstellung zu handhaben sei. Dass die Nacht im Frühjahr eine Stunde kürzer ist, wurde ihr mit zunehmender Wachheit bewusst. Wobei – völlig belanglos an einem Sonntag!

Sie kehrte, noch im Bett liegend, gedanklich zu ihrem Traum zurück, versuchte sich zu erinnern, die entrückenden Bilder festzuhalten. In ihrem Traum waren vom Alter gelb gewordene, maschingeschriebene Papiere und vergilbte Dokumente, die sie in einer Schachtel gefunden hatte, gewesen. Der Vormieter hatte die Blätter in der Wohnung gelassen gehabt und sie hatte sie gefunden und durchgeblättert. Ganz unten in dem Konvolut waren Nazidokumente gelegen, scheinbar Originale. Es ging dabei um Eugenik. Da waren Rassenlehretafeln und Zeichnungen jener Menschen, die dem damaligen Zeitgeist nicht entsprachen, gewesen, aber auch Ausdrucke einer PowerPoint Präsentation, scheinbar aus einem Unterricht stammend, möglicherweise aus einer Vorlesung. Sie wusste, dass es sich beim Vormieter der Wohnung um einen jungen Mann gehandelt hatte. „Was für ein kranker Mensch!“, hatte sie im Traum beim Durchsehen der – fraglich vergessenen oder absichtlich zurückgelassenen – naziverherrlichenden Dokumentensammlung gedacht. Da waren aber auch noch andere Dinge, nicht nur Dokumente, gewesen. Kleine Gegenstände. Sie versuchte sich zu erinnern, was genau sie in ihren Händen gehalten hatte, aber es war zu spät, der Traum zerrann, verflüchtigte sich. Das empfundene Unbehagen löste sich jedoch nicht völlig auf.

Wie kann es sein, dass jemand heute noch, so viele Jahre danach, dieses uralte kranke Gedankengut, das die Nazis aufgegriffen und versucht hatten – so perfide das klingt – zu perfektionieren, liebevoll aufbewahrt, sich – zumindest dem Anschein nach – damit identifiziert? Und was hatte dieser Inhalt überhaupt in ihrem Traum zu suchen? Was wollte das Unbewusste ihr sagen, an einem strahlend hellen Sonntagmorgen im Frühjahr?

 Dass Menschen nichts für ihr So-Sein können würden, weil alles Genetik ist?

 Dass Menschen indoktriniert werden würden können?

 Dass es Sippenhaftung gäbe?

 Dass der Mensch einen Sündenbock brauchen würde? Jemanden, der an allem Unglück – reellem oder eingebildetem – schuld sein müsse? Jemanden, den man mit allen Mitteln und frei von Strafe verfolgen, ächten, – wie eine Sau durch’s Dorf treiben –, dürfe?

 Dass der Mensch durch eine selbsternannte Autorität, die über keinerlei Qualifikation verfügen muss, beeinflussbar wäre?

 Dass der Großteil der Menschheit einen miesen Charakter habe? Egozentrisch, machtbesessen und rücksichtslos wäre? Nicht in der Lage sei, kritisch zu denken, vor der Handlung zu überlegen, Folgen abzuschätzen?

Mittlerweile war der morgendliche Traum sehr weit entrückt, die so real wirkenden Traumbilder vor dem inneren Auge verschwunden, die Gedanken in die – angenommene – Wirklichkeit übergesprungen, die Fragen allerdings waren die gleichen geblieben.

Selbstverständlich wusste sie, warum sie geträumt hatte, was sie geträumt hatte. Und wenngleich die Antwort so offen dalag, wie sie es eben tat, war es schwer, die Realität als solche wahrhaftig zu begreifen, zu akzeptieren – es ging einfach nicht in ihren Kopf!

Der Mensch ist von Natur aus gut? Sinnstiftend? Weltentwerfend? Hingewandt auf einen Menschen oder eine Sache, die oder der nicht er selbst ist? Strebend nach Menschlichkeit? Verantwortungsvoll? Platon, Aristoteles, Rogers, Bühler, Frankl, Maslow – um nur einige zu nennen –, sie alle hatten die Idee des Guten gehabt, daran geglaubt, dass der moderne Mensch aus eigenem Antrieb fähig sei, sich und seine Welt zu begreifen, gemäß seinen Gaben sein Handeln und Tun kritisch zu hinterfragen und sich intrinsisch motiviert hin zum Guten zu entwickeln.

Jedoch, de omnibus dubitare, an allem ist zu zweifeln. Auch – oder vor allem – am Menschen! Die rosarote Brille abgenommen und nüchtern auf die Realität geblickt: da braucht es nicht die großen Ereignisse – nicht den Krieg, nicht den Holocaust –, es reichen die für die ganze Welt unbedeutenden Geschehnisse, die kleinen Vergehen von Mensch zu Mensch, die des Betroffenen Welt erschüttern, solche, wie sie Michael Haneke in fiktiven Dörfern thematisiert und in Szene setzt – ein von Verachtung, Ausgrenzung, Demütigung, Unterdrückung, Missgunst, Frustration geprägtes Klima; es braucht nicht immer ein von Menschenhand erbautes Auschwitz, damit Menschen anderen Auschwitz erleben lassen – ohne ersichtliche Ursache, ohne vernünftigen Grund, ohne nachzudenken, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen, ohne einen selbstkritischen Blick auf das eigene Leben, Tun und Handeln zu werfen, frei von Sinn oder Verstand.

„Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird, d. h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht, dasselbe Geschlecht jedoch auch […] in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo homini lupus wird.“

Arthur Schopenhauer

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