Das Simulacrum ist ein Konzept, das von Jean Baudrillard in den 80er Jahren erdacht wurde. Es wird in etwa definiert als „ein Abbild einer Realität, die nicht existiert“. Baudrillard schuf dieses Konzept vor allem in Bezug auf die Medien, dem Gedanken folgend, dass man nun vermeintliche Realitäten präsentieren konnte, die zwar nicht existieren, aber als echt wahrgenommen wurden. Wenn wir z.B. ein Foto von einem Haus sehen, dann sehen wir nicht ein Haus, sondern eben ein Bild von einem Haus, aber wir schliessen sogleich daraus, dass dieses Haus existiert, da wir ein Bild davon haben. Ein Bild muss sich aber nicht auf ein visuelles Abbild begrenzen, sondern kann auch eine anderweitige Darstellung einer Realität sein, wie vielleicht eine Beschreibung über das Radio, oder, noch komplexer, die Darstellung einer gewissen Realität durch die Medien.

Bei Twitter ist genau dies der Fall. Twitter gibt vor, bzw. wird über Twitter vorgegeben, dass es sich um ein Abbild der sog. opinion publique, also der öffentlichen Meinung handelt. Journalisten (wenn man diese noch überhaupt so bezeichnen kann) schreiben gern darüber, dass eine Meinung oder Ansicht verbreitet ist, weil sie auf Twitter verbreitet ist. Die „cancel culture“ wird z.T. weitgehend über Twitter betrieben, indem etwas oder jemand systematisch durch die Nutzer dieser Plattform schikaniert werden. So sehr ist die Idee eingebürgert, dass Twitter ein grundlegender Teil der opinion Publique ist, dass immer wieder verlangt wird, gerade dort vermeintliche Falschinformationen zu zensieren.

Die Realität sieht allerdings sehr anders aus. Offiziell hat Twitter in Deutschland 8 Millionen Nutzer, das wären knapp 10% der Bevölkerung. Je nach dem von wie vielen Bot-Accounts man ausgeht, käme man auf zwischen 4 und 7 Millionen, also etwa zwischen 5% und 8%. Eine Studie von 2020 kam zum Ergebnis, dass 5% der Bevölkerung in Deutschland Twitter mindestens einmal wöchentlich benutzt. Erst recht ist Twitter kein Querschnitt der Bevölkerung: 82% der Twitter-Nutzer in Deutschland ist Männlich, und von denen, die Twitter mindestens wöchentlich benutzen, sind es vier mal mehr zwischen 14 und 49, als 50+. Genaue Informationen über die vorwiegende politische Neigung der Nutzer waren nicht auf Anhieb zu finden, jedoch schrieb „Psychologie-Aktuell“ zu einer Studie über den Wahlkampf von 2013: „Obwohl die Linke selbst fast überhaupt nicht twitterte, erhielt sie die weitaus günstigste Twitter-Zustimmung, gefolgt von den Piraten, der SPD, der AfD und den Grünen. Schlusslichter bildeten Union und FDP.“ Man kann wohl zumindest davon ausgehen, dass auch bezüglich des politischen Spektrums, Twitter kein wahrheitsgetreues Abbild der Bevölkerung darstellt. Auch sind Journalisten weit überdurchschnittlich auf Twitter aktiv – kein Wunder, handelt es sich ja um eines ihrer wichtigsten Instrumente zur „Recherche“.

Aber genau deshalb wird Twitter so gerne als Spiegel der öffentlichen Meinung benutzt: Es ist viel einfacher, einfach mal auf Twitter zu schauen was läuft, ohne gar den Arsch vom Stuhl zu heben, als ernsthaft Daten zu erheben, oder einfach unter die Leute zu gehen. Im Unbewusstsein, über die tatsächliche Reichweite und Demographie von Twitter wird es als Abbild der opinion Publique akzeptiert, und wird so zu einem Simulacrum dieser: Ein Abbild einer Realität, welche aber gar nicht existiert. Die perverse Konsequenz hiervon, ist dass Twitter zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung der öffentlichen Meinung wird: Was auf Twitter gemeint wird, wird durch die Journalisten verstärkt, und die Menschen akzeptieren es als eine vermeintlich weit verbreitete Ansicht, übernehmen diese durch einen Mitläuferreflex vielleicht sogar teils oder ganz. Twitter ist nicht nur ein verzerrtes Bild der öffentlichen Meinung, es verzerrt auch aktiv diese in seinem Abbild.

Darum ist es auch kein Wunder, dass Twitter verwendet wird, um mit sog. Bot-Farmen zu versuchen, die öffentliche Meinung in bestimmte Richtungen zu forcieren. Ob diese jetzt aus Russland sind, aus China, von der NATO oder von sonstigen unbekannten Interessen, Bot-Farmen werden von allen Seiten verwendet, und sicher nicht nur durch „die Bösen“, wie uns unsere selbstgefällige Medienlandschaft gerne glauben liesse. Sammlungen identischer (oder fast identischer) Twitter-Botschaften machen ersichtlich, wie gewisse Ideen oder Ansichten verbreitet werden sollen, um sich dann als Teil der opinion Publique einzubürgern.

Obwohl Twitter an sich eine zu tiefst abstossende Seite ist, welche sich als Austauschplattform ausgibt, jedoch systematisch und ideologisch zensiert, wie auch durch einen manipulierten Algorithmus vermeintliche Tendenzen platziert, und sich zum Hüter der absoluten Wahrheit aufspielt; ist das wirkliche Problem nicht an Twitter selbst, sondern an der Auffassung die davon existiert, vor allem unter den zahllosen inkompetenten Journalisten, welche diese dialektische Jauchegrube zu einem wahrhaftigen Abbild der öffentlichen Meinung erheben wollen, nur um ohne viel Anstrengung eine billige Boulevardschlagzeile zu schaffen. Man täte gut daran, sich immer wieder einmal vor Augen zu führen, dass Twitter eben nicht die öffentliche Meinung ist, sondern eine kleine, spezifische Filterblase, deren zumeist radikale oder sektiererische Ansichten keineswegs weitreichende Meinungen darstellen.

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