Alphaville ist eine ganz normale Kleinstadt in der Nähe von Sao Paulo. Vormittags trifft man Spaziergeher mit ihren Hunden am Waldrand, am Nachmittag spielen die Kinder auf der Straße. Abends wird gegrillt, man schaut sich Filme an. Innerhalb dieses beschaulichen Lebens passiert kaum Aufregendes. Gut, ein paar Unterschiede gibt es schon, zu anderen Städten. Es gibt keinen Arzt, keine Schule, keinen Kiosk. Dafür gibt es überall Kameras, die Einfahrt in diese Siedlung ist schwer bewacht, Elektrozäune trennen die Reichen von den Armen. Anfangs bloß ein Experiment, das nun seit mehr als vier Jahrzehnten läuft und zur Normalität geworden ist. Welche Parallelen lassen sich auf unsere „westlichen“ Lebensstandards übertragen, und welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen? Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf einer 2012 veröffentlichten Dokumentation[1].

Das Stadtgebiet der „NeoTown“ Alphaville umfasst 1400 Hektar, es gibt weitere Projekte mit demselben Ziel (ua. Tamboré). 50.000 Menschen wohnen abgeschottet von den Favelas, rund zehn Kilometer außerhalb von der Millionenmetropole Sao Paulo. Fünf Meter hohe Mauern, die rund um die Uhr vom Sicherheitspersonal beobachtet werden, strenge Zugangskontrollen. Hohe Investitionen in Life-Style-Aspekte und die künstliche Nähe zur Natur – dies ist das Konzept, mit dem sich die zahlungskräftigen Bewohner angefreundet haben. Als Kostenpunkt werden 2.000 Reais für die Grundausstattung (Wasser, Strom, Straßenerhaltung, Parkpflege) und 5.000 Reais für die zusätzlichen Sicherheitsmerkmale genannt (ich gehe von monatlichen Zahlungen aus, dies entspricht gesamt etwa 2.000 Euro).

Es ist für viele die Traumstadt schlechthin – Kriminalitätsrate gegen Null, da alles mit Kameras überwacht wird und Sicherheitspersonal rund um die Uhr erreichbar ist. Das muss man aus der Perspektive von Leuten aus der oberen Mittelschicht sehen, die zuvor in Sao Paulo gewohnt haben, dort ständig in Angst und Gefahr lebten. Nun sind sie in einer Komfortzone angelangt, es ist manchmal sogar ein bisschen zu ruhig da drinnen. Da verwundert dann die ältere Dame nicht, die meint: „Meine Aufgabe ist es, die drei Hausangestellten auszulasten!“ Konsum und Lifestyle stehen im Vordergrund, man sollte mit den Trends mithalten und über die neuesten Entwicklungen Bescheid wissen. Man sucht sich Aufgaben, bloß um den Alltag überstehen zu können. Quasi gefangen im Luxus. Man traut sich nicht mehr hinaus, in die chaotische und schmutzige Welt, jenseits der Mauern. Hier ist man sicher, im Sinne einer „selffulfilling prophecy“ wird man da draußen sicher vergewaltigt, zusammengeschlagen oder ermordet. Das steht in den Tageszeitungen. Das wird im Fernsehen gezeigt. Zum Glück ist man selbst nicht davon betroffen, solange die Nussschale nicht kentert.

„Die Sicherheit der Anwohner rechtfertigt jede Investition“, meint der Sicherheitsbeauftragte. Er ist sich auch bewusst, dass es keine 100%ige Garantie gebe, dass nicht doch eines Tages etwas passiere, denn man sei bloß durch eine schlichte Mauer von der Außenwelt abgeschottet – und da draußen wohnen sehr viele gewaltbereite Menschen, die den reichen Bewohnern neidisch und ablehnend gegenüber stehen. Die Freiheit des Einzelnen werde dadurch erst gewährleistet, jeder könne seine Tage planen, seine Freizeit verbringen und seinem Job nachgehen, wie er oder sie möchte – ohne ständig an die individuelle Sicherheit denken zu müssen. Gepanzerte Limousine mit Chauffeur zum Büro in der Innenstadt von Sao Paulo, quasi im Tunnelblick zum sicheren Arbeitsplatz. Dort kann auch nichts passieren, es gibt ja genügend Sicherheitsspezialisten, die auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.

Man wird das Gefühl nicht los, dass selbst Nina, eine etwa 12jährige Schülerin, nicht so richtig glücklich wird. Das richtige Leben findet da draußen statt, vor den Gittern von Alphaville und Tamboré. Die Abwechslung fehlt – es passiert nie etwas Aufregendes. Sie kann alles erreichen, ihre Eltern unterstützen sie in allen Belangen. Man merkt ihr an, dass sie dennoch verunsichert ist. Schutzmechanismen, Distanz und Fremdheit vergrößern die Angst vor „den anderen“, die sich das luxuriöse Leben innerhalb der sicheren Mauern nicht leisten können. Irgendwie erinnert mich das an Österreichs FREIHEITliche Fraktion. Es werden an Einwanderer Forderungen gestellt, sie müssen standardisierte Ziele wie „lernern Deutsch“ erreichen. Es wird jeder misstrauisch beäugt, der nicht sofort seine drei Kinder ins Land holen möchte. Wenn man Arabisch kann oder die falschen Seiten ansurft, wird man verdächtigt, ein Terrorist zu sein, der die ganze Gemeinschaft in die Luft sprengen will. Alle, die nicht von hier sind, gehören hier auch nicht her. Wehe, wenn du dich mal richtig in einen Ausländer verliebst, der hier nichts zu suchen hat. Aber dann!

In der Dokumentation wird klar: es ist eine mehr oder weniger freiwillige Form der Selbstisolation. Eine Film-Kamera bringt Abwechslung in das triste Leben, man mutiert plötzlich zum Selbstdarsteller, weil man spürt, dass sich jemand für einen interessiert. Man blüht auf, wird gastfreundlich, weil man sich finanzielle Zuwendungen erhofft, die die Lebensqualität verändern. Das erinnert mich skurrilerweise an Facebook und andere soziale Netzwerke. Man zieht sich hinter seinen Bildschirm, seine Kamera und seine Tastatur zurück, schreibt um des Schreibens willen, versucht krampfhaft, andere mit seinen Worten unterhalten zu können. Man will seine sozialen Kontakte pflegen, legt sich ein sinnloses Profil nach dem anderen an, manipuliert sein Umfeld, und versucht, sich so seine Lebensqualität zu verbessern. Man lebt am Leben vorbei, weil man nicht begreift, worauf es ankommt. Man wird nicht auf ein Leben in Alphaville vorbereitet – man wird hineingeboren und traut sich nicht hinaus, weil draußen so viele Gefahren lauern. Man könnte beleidigt, verletzt oder bestohlen werden.

Wer meinen Diskurs aufmerksam verfolgt, hat wohl bereits erkannt, dass ich Freiheit der Sicherheit eindeutig vorziehe. Kameras überall, aber vor was oder wem sollen uns die schützen? Vor uns selbst? Vor dem Tod? Vor unseren Nachbarn? Vor unseren Politikern? Vor Terroristen? Die Terroristen werden durch die Kamera bei mir ums Eck nicht abgeschreckt, da gab’s mal so Erfindungen, die nannte man Skihaube. Das ist ein Ding, das kann in der analogen Welt zur Maskierung benutzt werden. Die Politiker hinken der Reglementierung der Kameras hoffnungslos hinterher – sie sind gerade dabei, Wahlkämpfe zu planen und finanzielle schwarze Löcher aus der Ära Haider aufzudecken, wo soll da Zeit für so etwas unwichtiges wie anlasslose Massenüberwachung bleiben. Brauchen wir wirklich Kameras, um uns vor uns selbst oder unseren Mitmenschen zu schützen? Mir jedenfalls nimmt eine Kamera die Freiheit, mich verhalten zu können wie ich will – weil ich genau weiß, dass das heute aufgenommen, analysiert und vermutlich nie wieder gelöscht wird. Wozu auch, gibt ja genug Speicherplatz.

Wer sich zu viel mit Sicherheitsgedanken beschäftigt, verpasst das eigentliche Leben. Das ist so ähnlich wie mit exzessivem Fitnesstraining: man fährt mit dem Auto zum Fitnessstudio, zahlt dort brav seinen Mitgliedsbeitrag ein, und darf sich dort in einer geschützten Umgebung bewegen. Echte Freunde oder philosophische Gehirnjoggings wird man dort drinnen wohl kaum finden, man ist auf Isolation und Selbstdarstellung bedacht. Wehe, wenn der meinen Müsliriegel klaut – dann hab ich den Bösewicht auf Kamera und kann ihn verklagen! Mir passiert nichts, mein Körper ist perfekt und die ganze Welt weiß davon. Ja, und dann?!

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