Nachdem die Wiener SPÖ offiziell Regierungsverhandlungen mit den NEOS aufgenommen hat, scheint sich diese Koalition tatsächlich abzuzeichnen.

Allerdings gibt es da doch einen interessanten Aspekt:

Die SPÖ erhielt 41.62%, die NEOS 7.47% der abgegebenen gültigen Stimmen - ergibt in Summe 49.09%.

War da nicht irgendwas ? Demokratie sei die Herrschaft der Mehrheit ? Und nicht der Minderheit ? Und beginnt diese Mehrheit denn nicht erst bei 50.01% ?

Die Antwort lautet frei nach Radio Eriwan: im Prinzip ja - im Prinzip beginnt die Mehrheit bei 50.01%. Aaaaaaaaaber !

Aber es gibt auch gewisse "Grenzfälle". Das Wiener Wahlsystem ist in mehrfacher Hinsicht wahlergebnisverzerrend und -verfälschend, wahrscheinlich sogar das wahlverfälschendste und ergebnisverzerrendste aller österreichischen Wahlsysteme. In Wirklichkeit ist das Wiener Wahlsystem so verfälschend und ähnelt so sehr dem Mehrheitswahlrecht, dass sich die Frage stellt, ob es überhaupt vereinbar mit dem Verfassungsgrundsatz der Verhältniswahl ist. Erstens einhält es eine Fünfprozenthürde - also nur die Partei, die mehr als 5% der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten, dürfen in den Landtag/Gemeinderat einziehen.

Und zweitens hat das Wiener Wahlsystem mehrere zugunsten der Großparteien (also hier der SPÖ) verfälschenden Effekte:

1.) Die Wahlzahlberechnung: die Wahlzahl ist so festgelegt, dass Großparteien vermehrt zu billigeren Grundmandaten kommen, während Großparteien und Kleinparteien bei den teuren Restmandaten ungefähr gleiche Chancen haben.

2.) Das D´Hondt´sche Verfahren, das Großparteien begünstigt, insbesondere, wenn Mandate aus den Stimmen per D´Hondt berechnet werden und die Zahl der Stadträte dann aus der Zahl der Mandate.

Mit 41% der Stimmen erhält die SPÖ 46% der Mandate und 57% der Stadtratsposten.

Solcherart durch das Wahlsystem ohne Wählermehrheit entstehende Mehrheiten nennt man in der Politikwissenschaft "manufactured majorities" - erzeugte Mehrheiten. Durch das Wahlsystem erzeugte Mandatsmehrheiten ohne Wählermehrheiten.

Allerdings sind/wären auch die Grünen mitschuld, dass sie aus der Rot-Grünen Koalition rausgeflogen sind/wären, aber nicht - wie die Wiener FakeNews-Medien behaupten - wegen angeblicher Überheblichkeit, sondern wegen genau dem Gegenteil, wegen allzugroßer Nachgiebigkeit gegenüber der dominanten SPÖ.

Statt wie versprochen (im Falle von Ex-Vzebürgermeisterin Vassilakou sogar mit nichtssagendem Notariatsakt, der die Schaffung eines reinen Verhältniswahlrecht nur zum anzustrebenden Ziel erklärte, während es von den Grünen als Wahlversprechen verkauft wurde) eben diese reine Verhältniswahlrecht zu schaffen, begnügten sich die Grünen mit einer Beibehaltung der Fünfprozenthürde, die allerdings für sie den Vorteil hat, rivalisierende Grünparteien (oder diesmal die "Liste HC Strache" "killen" zu können, und mit einer geringfügigen Abschwächung des großparteienverstärkenden Effekts - so würde die Wahlzahl nicht mehr aus dem Quotienten Stimmen/(Mandate+1), sondern Stimmen/(Mandate+0.5) berechnet.

https://www.wien.gv.at/wahlergebnis/de/GR201/index.html

Die einzige überhebliche Partei dürfte in Wien eher die SPÖ sein, und wegen der Dominanz, der Verstärkung durch das Wahlsystem und der Unfähigkeit aller anderen Parteien, auf einen Konsens zu kommen, dürfte das auch so bleiben.

Die Stärke der SPÖ und die Schwäche der NEOS erkennt man auch daran, dass die NEOS zahlreiche ihrer Forderungen von der letzten Wien-Wahl aufgegeben haben, wie z.B. die nach Privatisierungen.

Somit dürfte der einzig entscheidende Punkt, der aus Sicht der SPÖ für diese Koalition spricht und sprach, sein, dass die NEOS als die kleinste Partei unter den möglichen Koalitionspartnern die billigste war.

Sodass diese Koalitionsregierung de facto eine SPÖ-Alleinregierung mit pinker Formalbeteiligung sein könnte.

Wenigstens entspricht/entspräche diese Entscheidung William Rykers minimum-winning-coalition-Theory, dass Großparteien am ehesten und wahrscheinlichsten mit der kleinsten und daher bescheidensten möglichen Koalitionspartei koalieren.

So gesehen macht die Wiener SPÖ dasselbe, was sie der burgenländischen SPÖ vor sechs Jahren vorgeworfen hatte, nämlich mit dem kleinsten möglichen Koalitionspartner, damals der burgenländischen FPÖ zu koalieren.

Und zusätzlich stellt sich die Frage, ob die Beendigung der rot-grünen Wiener Koalition eine Art Strafe der SPÖ für die Grünen ist, weil diese auf Bundesebene mit der ÖVP koalierten, nicht mit der SPÖ ...

Die vergangene rot-grüne Koalition hatte eine knappe, aber tatsächliche Mehrheit mit 39.6% für die SPÖ und 11.8% für die Grünen, also in Summe 51.4%.

Pixabay License / M. Hassan https://pixabay.com/illustrations/vote-voting-voting-ballot-box-3569999/

"Es ist egal, wie die Wähler wählen - entscheidend ist einzig und alleine, wer die Stimmen auszählt" - dieser Sager wird Jossif Wissarionowitsch Stalin zugeschrieben, früherer Diktator der Sowjetunion. Möglicherweise in diesem Geiste gestaltete die SPÖ ein Wahlsystem, von dem man Streiten kann, ob es den Verfassungsprinzipien Demokratie und Verhältniswahl entspricht.

Wien ist sowohl Land als auch Gemeinde, zumindest theoretisch, ob das in der Praxis verinbar ist mit der Verfassungsgerichtshofjudikatur, ist strittig.

Jedenfalls gilt sowohl für Länder als auch für Gemeinden aufgrund des Bundes-Verfassungsgesetzes das Verhältniswahlrecht:

B-VG Artikel 95 (3): "(3) Die Wähler üben ihr Wahlrecht in Wahlkreisen aus, von denen jeder ein geschlossenes Gebiet umfassen muss und die in räumlich geschlossene Regionalwahlkreise unterteilt werden können. Die Zahl der Abgeordneten ist auf die Wahlkreise im Verhältnis der Bürgerzahl zu verteilen. Die Landtagswahlordnung kann ein abschließendes Ermittlungsverfahren im gesamten Landesgebiet vorsehen, durch das sowohl ein Ausgleich der den wahlwerbenden Parteien in den Wahlkreisen zugeteilten als auch eine Aufteilung der noch nicht zugeteilten Mandate nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgt. Eine Gliederung der Wählerschaft in andere Wahlkörper ist nicht zulässig."

Artikel 117 (2): "(2) Der Gemeinderat wird auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der männlichen und weiblichen Staatsbürger, die in der Gemeinde ihren Hauptwohnsitz haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Die Wahlordnung kann jedoch vorsehen, dass auch Staatsbürger, die in der Gemeinde einen Wohnsitz, nicht aber den Hauptwohnsitz haben, wahlberechtigt sind. Die Wahlordnung darf die Bedingungen des Wahlrechtes und der Wählbarkeit nicht enger ziehen als die Landtagswahlordnung; es kann jedoch bestimmt werden, dass Personen, die sich noch nicht ein Jahr in der Gemeinde aufhalten, dann nicht wahlberechtigt und wählbar sind, wenn ihr Aufenthalt in der Gemeinde offensichtlich nur vorübergehend ist. Unter den in der Wahlordnung festzulegenden Bedingungen sind auch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union wahlberechtigt und wählbar. Die Wahlordnung kann bestimmen, dass die Wähler ihr Wahlrecht in Wahlkreisen ausüben, von denen jeder ein geschlossenes Gebiet umfassen muss. Eine Gliederung der Wählerschaft in andere Wahlkörper ist nicht zulässig. Art. 26 Abs. 6 ist sinngemäß anzuwenden. Für den Fall, dass keine Wahlvorschläge eingebracht werden, kann in der Wahlordnung bestimmt werden, dass Personen als gewählt gelten, deren Namen auf den Stimmzetteln am häufigsten genannt werden."

Und weil wir schon bei Radio Eriwan und Stalin waren, hier noch ein paar Radio-Eriwan-Witze:

".) Ist es möglich, auch in einem hochindustrialisierten Land den Sozialismus einzuführen? – Im Prinzip ja, aber es wäre schade um die Industrie.

.) Hätte die Katastrophe von Tschernobyl vermieden werden können? – Im Prinzip ja, wenn nur die Schweden nicht alles ausgeplaudert hätten.

.) Stimmt es, dass der Kapitalismus am Abgrund steht? – Im Prinzip ja, aber wir sind bereits einen Schritt weiter.

.) Gibt es in der Sowjetunion eine Pressezensur? – Im Prinzip nein. Es ist uns aber leider nicht möglich, auf diese Frage näher einzugehen.

.) Kann man mit einem russischen Auto auf russischen Straßen 120 km/h fahren? – Im Prinzip ja. Aber nur einmal.

.) Stimmt es, dass im Ehebett die Frau immer rechts schläft? – Im Prinzip ja. Wir haben aber von Parteifunktionären gehört, die ihre Frauen links liegen gelassen haben.

.) Stimmt es, dass das Klopapier in einigen Städten knapp wird? – Im Prinzip nein, aber die Auflage der Prawda konnte erhöht werden."

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