Abschied in Raten - der schleichende Verlust

Im Nachhinein gesehen hat es die ersten Anzeichnen einer Demenz bei meiner Mutter schon vor ungefähr 12 oder 13 Jahren gegeben. Damals war meine Mutter mit einer Blaseninfektion im Krankenhaus und meine Schwester rief uns im Urlaub an und beorderte uns zurück. Mit meiner Mutter würde es zu Ende gehen und es wäre wohl an der Zeit sich zu verabschieden.

Was durchs Telefon noch überaus dramatisch und lebensbedrohend geklungen hat, entpuppte sich später als eine durchaus nachvollziehbare Reaktion auf die nachlässigen Trinkgewohnheiten meiner Mutter. Da meine Schwester die Neigung zur Theatralik offensichtlich von meiner Mutter geerbt hatte, bescherte uns dieses Verhalten einen abgebrochenen Urlaub. Stattdessen fanden meine Kinder Spaß daran, dass ihnen die Großmutter über die gesamte Besuchszeit rund 30 Mal erzählte, was es zum Mittagessen gegeben hatte. Es war so skurril, dass ich heute noch sagen kann, dass es Saftschnitzel mit Reis und Salat gegeben hat. Als ich meine Schwester auf dieses Verhalten ansprach, meinte sie nur, dass das auf die hochdosierten Antibiotika zurückzuführen sei. Ahnungslos wie ich war, nahm ich das als gegeben hin.

Etwa zwei Jahre später wartete ich dann zum ersten Mal vergeblich auf einen Telefonanruf zu meinem Geburtstag. Da sich meine Mutter und ich nie sehr nahe gestanden hatten, war ich nicht sonderlich überrascht. Für mich war es eben ein Indiz, dass die Vergesslichkeit des Alters meine Mutter schon langsam befallen würde. Den ganzen Tag war ich beschäftigt, am Abend rief eben ich meine Mutter an. Sie sollte doch die Chance bekommen, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Aber es kam nichts. Wir plauderten ein wenig darüber, wie es den Kindern so ging und über Belanglosigkeiten alltäglicher Natur. Gegen Ende des Gesprächs konnte ich es mir nicht verkneifen sie zu fragen, ob sie denn wissen würde, welcher Tag heute wäre, was sie aufrichtig und mit Erstaunen in der Stimme verneinte. Ich sagte ihr, dass es mein Geburtstag sei und ich erhielt ein vollkommen desinteressiertes, emotionsloses "aha" zur Antwort. Und sonst nichts.

Ich war immer noch nicht sonderlich alarmiert. Meine Schwester arbeitet auf einer geriatrischen Station im Krankenhaus, war aber offensichlich vollkommen blind, was die Veränderungen meiner Mutter betraf. Ich hingegen war der Meinung, dass meine Schwester mich schon über den Gesundheitszustand meiner Mutter informieren würde, sofern ihr das nötig erscheinen würde. So gingen also weitere, in dieser Hinsicht ereignislose Jahre ins Land. Die wenigen Besuche, die wir einander abstatteten waren distanziert wie immer, es gab zwar die eine oder andere Auffälligkeit, aber für mich waren es eigentlich nachvollziehbare Alterserscheinungen.

Irgendwann vor etwa vier Jahren statteten Josef, meine Zwillinge und ich meiner Mutter wieder mal einen Besuch ab. Die beiden jüngeren Söhne blieben zu Hause. Meine Mutter machte die Tür auf und erkannte mich nicht. Zugegbenerweise waren die Besuche spärlich, aber so drei oder vier Mal im Jahr haben wir uns schon gesehen. Es war also nicht so, dass wir uns seit zwei Jahrzehnten wieder das erste Mal gegenübergestanden hätten. Ich war erstaunt darüber - nicht schockiert, das ist nicht die passende Bezeichnung. Josef hingegen erkannte sie sofort. Wenn man bedenkt, dass sie Josef erst seit rund 10 Jahren kannte, ich aber ihre Tochter bin, war es umso erstaunlicher. Aber eigentlich spiegelte sich in diesem "Wiedererkennen" einfach nur unsere distanzierte Beziehung wider.

Seitdem meine Mutter dann vor drei Jahren zu uns gekommen ist, sehen wir den weiteren Verfall ihrer Persönlichkeit quasi aus erster Reihe. Innerhalb der ersten drei Monate hatte meine Mutter die Fähigkeit verloren, auch nur eine halbe Minute allein in einem Zimmer zu verbleiben. Kaum ist man außer Sichtweite, ist meine Mutter, sofern ihr körperlicher Zustand das gerade zulässt, auf den Beinen um jemanden zu suchen. Ist ihr das nicht möglich, ruft sie nach Josef. Und Josef hat innerhalb von zehn Sekunden zu erscheinen. Gelingt das nicht, wird meine Mutter panisch und kreischt nach Josef.

Nach und nach legt sie inzwischen auch ihr Schamgefühl ab. So kann es schon mal sein, dass sie in der Öffentlichkeit plötzlich ihr Gebiss herausnimmt um es dann mit kindlicher Begeisterung zu begutachten. Oder dass sie auszuziehen beginnt und sich davon nicht wirklich abbringen lassen will.

in der Zwischenzeit ist noch mehr in Verlust geraten. Etwa die Fähigkeit die Finger still zu halten - es ist ein ständiges Klopfen am nächsten erreichbaren Hindernis, sei es ein Tisch, die Autotür oder auch nur ihr eigener Oberschenkel. Jegliche Fähigkeit zur Eigeninitiative betreffend der Körperpflege ist ebenso abhanden gekommen. Und vor allem die Fähigkeit zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden.

Allerdings sind das alles der Krankheit Alzheimer Demenz zuzuordnende Verhaltensweisen.

Dass sich aber unser Leben in annähnernd gleicher Weise schleichend verabschieden würde, war uns nicht bewusst.

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Steirermadl

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