Abschied in Raten - die Russen kommen

Heute um 02:43 sind die Russen gekommen. Behauptet meine Mutter mit schriller Stimme. Ich bin skeptisch. Erstens ist meine Mutter nahezu blind und zweitens ist die Nacht so finster, dass man die Hand vor den Augen nicht sieht. Abstreiten ist ein sinnloses Unterfangen, denn meine Mutter hat keinerlei logischen Zugang zur Realität. Dennoch starte ich einen zum Scheitern verurteilten Versuch und biete meiner Mutter einen annehmbaren Ausweg an. Ich setze mich ans Bett und frage sie, ob sie vielleicht geträumt hat. Sie schüttelt den Kopf und zeigt zum Fenster, das aus meiner Sicht nur ein dunkler Fleck ist.

Ich frage, ob ich mal nachsehen soll, meine Mutter quittiert das mit einem undefinierbaren Geräusch, einer Art Schluchzen - aus der Kehle kommend. Da ich die Antwort meiner Mutter nicht mit Gewissheit deuten kann, stehe ich auf. Zumindest versuche ich es, denn ein Arm meiner Mutter schießt blitzschnell unter der Decke hervor und ihre kalten Finger klammern sich in meinen Unterarm. Ich frage mich zum wiederholten Mal, woher diese unbändige Kraft kommt, die meine Mutter in speziellen Situationen mühelos aus dem Nichts abrufen kann. Panik, denke ich.... so sieht reine Panik aus.

Meine Mutter sieht zum Fürchten aus. Ich grinse unpassenderweise, denn die imaginären Russen vorm Fenster sind weit weniger furchteinflößend als meine Mutter mit den wirr vom Kopf abstehenden Haaren und den panisch aufgerissenen Augen. Da meine Mutter immer noch aufs Fenster starrt, sieht sie meinen Gesichtsausdruck nicht, was mich dankbar macht, wenn ich will ihr ja keineswegs das Gefühl geben, dass ich mich über sie lustig mache.

Ich versuche der Umklammerung der Finger zu entkommen, da es allmählich schmerzhaft wird und tätschle beruhigend die Hand meiner Mutter.

Vielleicht hilft Ablenkung, denke ich und greife ganz tief in die Katzentrickkiste. Emma, unsere Katze, wirkt meist sehr beruhigend auf meine Mutter. Ob sie denn wisse, wo Emma wäre, frage ich meine Mutter. Meine Mutter sieht mich an und schüttelt fast unmerklich den Kopf. Ich rufe nach Emma. Logischerweise kommt sie nicht. Emma ist eine Katze und macht dementsprechend prinzipiell, was sie grad will. Und ganz bestimmt will sie nicht mitten in der Nacht einen wo auch immer gefundenen warmen Schlafplatz aufgeben, nur um mir zur Seite zu stehen. Meine Mutter dreht den Kopf und schielt ebenso nach Emma.

Unbedacht, wie ich gezeichnet vom Schlafmangel und der Absurdität der Situation so am Bett meiner Mutter sitze, äußere ich den Verdacht, dass Emma vielleicht darussen wäre und lasse dabei vollkommen außer Acht, dass draußen ja die Russen sind. Der Klammergriff meiner Mutter nimmt abermals an Intensität zu und ich kann einen Schmerzensschrei nur mehr mit höchster Anstrengung vermeiden.

So werden wir wohl aus diesem nächtlichen Dilemma nicht herauskommen, muss ich mir eingestehen. Nun, wenn meine Mutter nicht realisieren kann, dass sie träumt, und mir das undankbare Katzenvieh auch nicht behilflich sein will, dann bleibt mir nur noch ein Ausweg. Ich muss die Russen bekämpfen.

Ich bitte meine Mutter mit leiser Stimme um Mithilfe. Sie muss sich ganz ruhig verhalten, damit unser Plan gelingt. Ich werde mich rausschleichen und die Russen vertreiben, verspreche ich ihr hoch und heilig. Nach anfänglichem Zögern kann sich meine Mutter damit anfreunden, dass ihre Aufgabe darin besteht, möglichst still im Bett zu bleiben. Netterweise lässt sie auch meinen Unterarm los und legt sich wieder hin.

Ich geh raus aus dem Zimmer und verspreche, gleich wiederzukommen. Erschöpft sitze ich dann am Tisch und reibe meinen schmerzenden Unterarm. In ein paar Stunden ist das ein hübscher ausgwachsener blauer Fleck, denke ich. Emma springt auf den Tisch, macht einen Katzenbucke, setzt sich graziös hin und sieht mich dann gelangweilt an. Ich betitle das Vieh mit eure Hoheit, und beneide sie um ihr ruhiges Katzenleben fernab vom nächtlichen Treiben meiner Mutter.

Dann stehe ich auf, geh ins Zimmer zurück und erzähle meiner Mutter, dass ich die Russen vertrieben habe. Ich habe ihnen ein altes Fahrrad geschenkt, aber keiner der Russen hätte Fahrrad fahren können. Und so hatten die einen Mordsspaß daran, das Fahrradfahren auszuprobieren. Selbstverständlich wären sie immer wieder umgefallen, aber das wäre nicht weiter schlimm.

Die Panik in den Augen meiner Mutter verschwindet merklich. Sie bekommt sogar ein klägliches Lächeln zustande. Das kennt sie, sagt sie, die Russen hätten auch damals nicht radfahren können, als sie bei ihnen zu Hause im Dorf waren. Und auch da wären sie immer umgefallen. Ich geh zum Fenster und sehe in die Nacht hinaus. Mit ernster Stimme versichere ich meiner Mutter, dass die Russen weg sind - ich könnte keinen einzigen mehr sehen. Und zu hören wäre auch nichts mehr.

Meine Mutter seufzt und entspannt sich merklich. Beim Hinausgehen aus dem Zimmer streichle ich meiner Mutter über den Kopf, aber sie ist schon eingeschlafen.

Später sitzt sie dann gut ausgeschlafen beim Frühstück, das nächtliche Treiben ist vollständig aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie freut sich über den musikalischen Frühschoppen, den Josef ihr aufgedreht hat und plaudert unbeschwert über die Katze.

Einzig der blaue Fleck erinnert an die Russeninvasion im Wald. Fast könnte ich heute dem nicht mehr vorhandenen Kurzzeitgedächtnis meiner Mutter etwas Gutes abgewinnen, denke ich und registriere, dass meine Mutter gerade zum dritten Mal fragt, wie die Katze heisst. Das ist eben die Kehrseite der Medaille.......

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fischundfleisch

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Joekah

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