Abschied in Raten - irgendwie geht es weiter

Abends kommt unsere Ärztin. Ich warte erstmal ab, was sie sagt. Wir erklären ihr kurz den Ablauf der letzten Tage, zeigen die Krankenhausbefunde und äußern die Sorge um den apathischen Zustand meiner Mutter. Ein frischer Schlaganfall wurde ja seitens des Krankenhauses ausgeschlossen, der Bruch von Elle und Speiche aber rechtfertigt den Zustand meiner Mutter auch wieder nicht.

Einen Zusammenhang zwischen dem Risperidon und dem Sturz schließt unsere Ärztin kathegorisch aus. Zum einen sei das Medikament gut verträglich und würde auch in Plegeheimen eingesetzt. Zum anderen würde das Medikament rund acht Stunden wirken, und somit wäre der Zeitraum zwischen der Verabreichung am Abend und dem Sturz zu Mittag am nächsten Tag ausgeschlossen. Ich weise auf den Beipackzettel hin. Auf die erhöhte Sturzgefahr (ein Schlaganfall war es ja nicht), die mögliche Gangunsicherheit, erhalte aber die Auskunft, dass es dennoch ausgeschlossen wäre.

Glücklich macht mich diese Aussage nicht, denn es gibt ja keinen anderen nachvollziehbaren Grund, warum meine Mutter, die bis dahin zwar nicht mehr über lange Strecken, aber dennoch sehr sicher zu Fuß und ohne Gehhilfe im Haus unterwegs war.

Was derzeit aber dringlicher scheint, ist der Flüssigkeitsmangel, an dem meine Mutter nach zwei Tagen, an denen sie lediglich Infusionen bekommen hat, leidet.

Die Lippen und der Mundraum wären schon leicht ausgetrocknet, die Zunge habe einen Belag.

Meiner Mutter wird eine neuerliche Infusion angehängt, Verdursten sei keine Option, sagt unsere Ärztin.

Und nun könnten wir nicht viel tun, als abzuwarten.

Später ist die Ärtzin wieder weg, ich hole mir aus dem Badezimmer eine Mundspülung, verdünne sie und tauche einen Zipfel eines Tuches hinein und wische den Belag von der Zunge meiner Mutter.

Meine Mutter lässt diese Behandlung regungslos über sich ergehen.

Es ist so traurig, sie hier so liegen zu sehen.

Josef bringt eine Schale mit Zitronensaft und Wasser und meint, dass wir meiner Mutter den Mund damit befeuchten könnten. Mit wir meint er definitiv mich, denn er selber hat hier eine seltsame Scheu, die ich nicht zuordnen kann. Vielleicht ist er auch nur ebenso verunsichert wie ich.

Ich nehme also noch ein Tuch, tauche es in die Zitronenmischung und befeuchte den Mundraum meiner Mutter.

Da kommt die erste Reaktion. Meine Mutter hustet. Die aufkeimende Freude über dieses Lebenszeichen weicht nahezu augenblicklich der Sorge, da der Husten in raschelnden Atem übergeht. Der Brustkorb hebt sich jetzt deutlich, aber scheinbar sind die Bronchien vollkommen verschleimt.

Vorsichtig klopfe ich meiner Mutter mit der flachen Hand großflächig auf die Brust. Die Atmung wird etwas leichter und meine Mutter schläft wieder etwas ruhiger.

Josef und ich sind nicht sicher, was wir tun sollen. Braucht sie Ruhe oder Gesellschaft, oder wartet sie auf die Erlaubnis gehen zu dürfen.

Josef lässt uns alleine und ich hocke wieder mal am Bett meiner Mutter und halte ihre Hand. Sie schläft oder dämmert vor sich hin oder bereitet sich auf den Tod vor.

Ich höre auf meine Intuition, bedanke mich dafür, dass sie meine Mutter ist und erlaube ihr zu gehen, da sie alles richtig gemacht hat, sofern sie das will. Aber lieber wäre es mir schon, wenn sie wieder auf die Beine kommen würde, denn vor dem Haus steht ein Flieder, ein dunkelvioletter Flieder und wir haben uns ja schon so darauf gefreut, drunter zu sitzen, wenn er blüht. Und bis dahin dauert es ja doch noch ein bisschen.

Es ist ein sehr hilfloser Versuch mit der Situation zurechtzukommen, aber es steckt viel Trost darin, wie mir später bewusst wird.

Josef und ich entscheiden uns, ein bisschen Schlaf zu bekommen, gelingen will es nicht so ganz, denn abwechselnd schauen wir in Abständen von etwa einer halben Stunde nach meiner Mutter.

Irgendwann weit nach Mitternacht ruft meine Mutter nach Josef, ein einziges Mal, sehr laut, sehr deutlich und mit fester, ruhiger Stimme.

Josef sieht nach ihr und kaum ist er in ihrem Zimmer, hat meine Mutter einen heftigen, vollkommen verschleimten Hustenanfall. Josef handelt intuitiv, entfernt mit den bloßen Fingern den Schleim aus dem Mundbereich meiner Mutter und registriert, dass sich die Augen suchend umsehen. Als sie Josef im Blickfeld hat, seufzt sie tief und schläft weiter.

Es ist unheimlich und gruselig und der Adrenalinschub hält uns bis zum nächsten Morgen wach.

In uns keimt ganz sanft und behutsam ein kleines Pflänzchen, das sich Hoffnung nennt.

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Spinnchen

Spinnchen bewertete diesen Eintrag 14.03.2016 11:54:30

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