Abschied in Raten - Probesterben

Es wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben, warum in meiner Mutter eine Energieumkehr stattfindet. Kurz nach Mitternacht entwickelt meine Mutter einen unbändigen Wandertrieb, der seinen Höhepunkt rund drei Stunden später hat. Danach flacht die Kurve langsam ab, und gegen sechs Uhr morgens verpufft die Restenergie und meine Mutter verfällt in ihren wohlverdienten Schlaf. Weder Josef noch ich können der Verschiebung der Wachzeiten sonderlich viel abgewinnen, und so beginnt unser Tag logischerweise morgens - es ist ja nicht so, dass wir bedingt durch den anstehenden Umzug nichts zu tun hätten und die meisten dieser unvermeidbaren Tätigkeiten sind nachts nicht so ohne weiteres durchführbar.

Josef kocht Kaffee, aber Koffein ist nicht ausreichend stark genug, um die bleierne Müdigkeit aus den Knochen zu vertreiben - zumindest nicht in dieser Form. Ich verwerfe den Gedanken daran, die Kaffeebohnen zu kauen, was in erster Linie daher kommt, dass ich zu müde bin, um in die Küche zu gehen, um mir welche zu holen. Wir müssen dem nächtlichen Treiben Einhalt gebieten, und haben dann den ersten morgendlichen Geistesblitz. Wir wecken meine Mutter einfach wieder auf - seit ihrem Entschlummern ins Reich der Träume sind schon gute zwei Stunden vergangen und die Aussicht Erfolg zu haben, mobilisiert unsere letzten Kräfte.

Josef macht sich also auf den Weg zum Zimmer meiner Mutter, macht schwungvoll die Tür auf und wünscht meiner Mutter einen guten Morgen. Es folgt Stille. Josef steht also in der Tür, wirft mir einen undefinierbaren Blick zu und wiederholt sein guten Morgen. Es kommt keinerlei Reaktion von meiner Mutter, kein Gemurmel, kein Gruß zurück, kein Ächzen vom Bett. Josef verschwindet aus meinem Blickfeld und kommt eine halbe Minute sehr bleich und mit verstörtem Ausdruck im Gesicht zurück.

Er lässt sich wie ein nasser Sack auf einen Stuhl fallen und sieht mich an, als hätte er einen Geist gesehen. "Was?" frage ich wenig wortreich, aber er versteht mich auch so und sieht mir mitfühlend direkt ins Gesicht. "Also" sagt er und rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her, er sei sich nicht sicher, ob meine Mutter noch am Leben wäre. Da sie auf seinen Morgengruß nicht reagiert habe, wäre er ans Bett gegangen und hätte sie an der Schulter berührt und ein bisschen dran geschüttelt. Meine Mutter habe nicht reagiert und da habe er ein bisschen fester gerüttelt, aber auch das habe meine Mutter nicht aufgeweckt. Weil er dann nicht so recht wusste, was zu tun sei, habe er im abgedunkelten Zimmer versucht, zu erkennen, ob sie noch atmet. Er habe den Brustkorb meiner Mutter beobachtet, aber keinerlei Bewegung erkennen können. Es wäre also nicht weiter verwunderlich, wenn meine Mutter tot wäre.

In meinem Kopf rattert ein Film ab - meine Mutter ist also tot - ich muss meine Geschwister anrufen und auch den Arzt und mich überkommt ein leichter Anflug von Panik. Schließlich ist meine Mutter ja das erste Mal gestorben und ich habe keinerlei Ahnung, was ich jetzt tun oder lassen soll. Sinnvoll erscheint mir aber, erstmals die Panik wegzuatmen und dann nachzusehen.

Meine Beine sind etwas zittrig, aber an diesem Weg führt kein anderer Weg vorbei. Ich schleppe mich also bis zur Tür und schleiche dann ins Zimmer. Meine Mutter sieht tot aus - sie bewegt sich kein bisschen. Die Hände hat sie über dem Brustkorb gefaltet und sie ist scheinbar im Schlaf von uns gegangen. Ich schleiche also weiter ans Bett und versuche den sich blitzschell bildenden Kloß im Hals runterzuschlucken. Wie Josef gesagt hat, hebt sich der Brustkorb meiner Mutter kein bisschen. Vielleicht kann ich was erkennen, wenn ich näher drangehe, hoffe ich und halte den Atem an. Ich neige den Kopf und betrachte meine Mutter. Sie sieht im Tod genauso aus, als würde sie schlafen, und ich halte diesen sehr friedlichen Gedanken fest. Sie hat also nicht leiden müssen, denke ich dankbar und unterdrücke den Impuls zu Weinen.

Ich seufze, und versuche zu akzeptieren, dass es vorbei ist und ich ziehe mir einen Stuhl ans Bett. Ich lege meinen Kopf auf den Bettrand und meine Mutter flatuliert geräuschvoll. Sich damenhaft von den Toten zurückzumelden, sieht auch anders aus, teile ich meiner Mutter trocken mit, und stehe, ein hysterisches Lachen unterdrückend auf.  Logischerweise hat meine Mutter keinerlei Ahnung, was ich von ihr will. Sie öffnet ein Auge und fixiert mich damit. Ich streiche die Decke glatt und teile meiner Mutter mit, dass sie noch ein bisschen schlafen kann. Wenn der Kaffee fertig wäre, dann würde Josef sie zum Frühstück holen. "Ist gut", versichert sie mir jovial, gähnt ausgiebig und ist augenblicklich wieder eingeschlafen.

Ich setze mich draußen zu Josef, und teile ihm mit, dass ich noch einen Kaffee brauche. Und dass wir Bohnen vom Speiseplan streichen sollten, was so aus dem Zusammenhang gerissen, für Josef keinerlei Sinn ergibt. Und dann sitze ich bei meiner Tasse Kaffee und warte, dass sich mein Pulsschlag wieder beruhigt.......

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Joekah

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Spinnchen

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fischundfleisch

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