Menschen hatten immer schon eine gewisse Tendenz dazu, alles verstehen zu wollen. Die Jagd nach der einen großen Wahrheit hat dabei auch zahlreiche Opfer gekostet. Opfer, welche zum einen von Forscherinnen und Forschern in Selbstversuchen erbracht wurden oder durch Hinnahme des mit der Gewinnung von Erkenntnissen verbundenen meist unbekannten Risikos: Marie Curie etwa ist eine solche Wissenschaftlerin, welcher wir die in der medizinischen Diagnose nicht mehr wegzudenkende Weiterentwicklung der Erkenntnisse Henri Becquerels verdanken: das Röntgen. An einer schweren Blutkrankheit, die auf die Strahlenbelastung zurückzuführen war, verstarb sie; der Forscherdrang, der Marie Curie trieb, die Radioaktivität zu ergründen und sich dabei täglich den Strahlen auszusetzen samt der Erprobung der Wirkung in Selbstexperimenten, hatte seinen Preis gefordert.

Die Suche nach Begründungen für beobachtete Phänomene trieb die Menschen aber nicht immer nur an zu konstruktiver Forschung nach den Zusammenhängen in der Natur. Viel zu oft schien es bequemer, Schuldige zu identifizieren und verantwortlich zu machen für das scheinbar Unerklärliche statt die Anstrengungen zwecks Erforschung der Hintergründe fortzusetzen: besonders augenscheinlich wird dies in der Geschichte der Hexenverfolgung, in welcher die Skeptizisten, also die Vertreterinnen und Vertreter jener aus dem antiken Griechenland herrührenden philosophischen Weltanschauung, welche alles hinterfragt, gegen jene Kräfte der Gesellschaft ins Hintertreffen gerieten, die in meist weiblichen Zeitgenossinnen den Grund für sämtliche Plagen fanden, die es auszulöschen gelte. Der Hexenhammer, Malleus Maleficarum, welchem von einigen sogar, höchst umstritten, päpstlicher Segen nachgesagt wird, wurde 1486 veröffentlicht und galt dann Jahrhunderte hindurch mit 29 Auflagen in Europa als Standardwerk für Begründung und Art der Folter und Hinrichtung jener Menschen, welche in die Nähe unerklärlicher Brauchtümer oder Praktiken gebracht wurden. Besonders paradox erscheint dabei die auf der Bibel aufsetzende Begründung, zumal das Alte Testament der Bibel Plagen etwa im Zusammenhang mit den auch naturwissenschaftlich begründbaren Vorkommnisse in Ägypten zur Zeit Mose doch dem göttlichen Willen und nicht dem Teufel zuordnet. Nichtsdestotrotz wurden auf zum Großteil religiösen Aspekten aufbauend standardmäßig jene Frauen verfolgt, die aufgefallen sind durch die Teilnahme an Zusammenkünften, durch die Anwendung besonderer Methoden der Naturheilkunde oder in deren Nähe einfach nur eine unerklärliche Anhäufung von Krankheitsfällen oder Naturgewalten wie die Ernte vernichtender Hagel, Murenabgängen oder Hochwässer beobachtet wurde. Dass dabei meist Frauen verfolgt wurden ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Dominikaner Heinrich Kramer im Hexenhammer des langen und breiten ausführte, dass es Frauen seien, welche eine Neigung dazu hätten, mit dem Teufel einen Pakt zu schließen, was sich bereits aus dem Wortstamm von „femina“ ergäbe: „fides“, Glaube, und „minus“, weniger – also ferner dem Glauben. In der Hexenausstellung in der steirischen Riegersburg, wo lange Zeit auch Hexenprozesse abgehalten wurden, können Zeugnisse dieser grausamen Zeit betrachtet werden: Folterwerkzeuge, mit welchen auf bestialische Art und Weise Geständnisse erpresst wurden, und zahlreiche Zeitdokumente sind hier ausgestellt.

Zum Glück hat die Aufklärung diesem Treiben, wenngleich mit starker zeitlicher Verzögerung in der faktischen Umsetzung, wieder ein Ende gesetzt. Ohne dabei die unerklärlichen Wirkungen von dem Hexentum und der Zauberei zugeschriebenen Heilpraktiken und Ritualen als irreal zu bewerten, wurden die Thesen des Dominikaners Heinrich Kramer der Reihe nach in Frage gestellt. Waren es zunächst die Methoden der Folter, welche in juristischen Abhandlungen wie der Cautio Criminalis des Jesuiten Friedrich Spee verurteilt wurden, so gewannen allmählich auch Zugänge des Skeptizismus wieder Oberhand: der Jurist und Aufklärer Christian Thomasius sei hier stellvertretend genannt für das Hinterfragen, ob Hexen und ein Teufelspakt überhaupt existieren könnten, und die Einforderung entsprechender Beweise abseits erpresster Geständnisse.

Der Begriff „Hexenverfolgung“ hat allerdings auch in der heutigen Gesellschaft Bedeutung. Auch heute gibt es, vor allem in den social media stark zu beobachten, eine gesellschaftliche Strömung, welche dazu neigt, all jene Menschen zu verurteilen, welche mit dem aktuellen Wissensstand der Forschung nicht begründbare Meinungen vertreten oder Leistungen erbringen. Paradoxer Weise sind es dabei heute auch die Skeptizisten, welche sich an dieser Hexenjagd beteiligen: haben die Vertreterinnen und Vertreter dieser philosophischen Weltanschauung Ende des 15. Jahrhunderts noch dagegen angekämpft, Menschen zu verfolgen wegen vermeintlich in irrationaler Weise besonders mit der Natur verbundener Fähigkeiten, so sehen sie sich in der Gegenwart meist in der Gruppe jener, welche besonders lautstark gegen Esoterik ankämpfen. Die Hexenverfolgung der Gegenwart findet dabei, wie vor einigen Jahrhunderten, nicht in einem mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbaren Prozess statt, sondern bedient sich, wie damals, aller Vorurteile, welche darauf abzielen, das Ansehen dieser Menschen in der Öffentlichkeit zu schwächen: wurde damals Hexen vorgeworfen, der Kontakt eines Mannes zu einer Hexe könne sehr wahrscheinlich damit enden, dass er sein Glied verliert, so wird heute davor gewarnt, dass Menschen, welche wegen ihrer Meinung oder ihrer Dienstleistungen in ein esoterisches Eck gesteckt werden, nur darauf aus seien, anderen das Geld betrügerisch aus der Tasche zu ziehen oder einfach nur die Entwicklung der Wissenschaft zum Schaden der Menschen zu unterwandern. Die moderne Folter ist dabei die öffentliche Ächtung durch öffentliche lautstarke und unverhältnismäßige Kritik, das angestrebte Urteil ist es, dass diese Menschen in der öffentlichen Meinung in Ungnade fallen und als missliebige Person behandelt werden.

Aber nicht nur gegen unerklärliche Phänomene richten sich solchermaßen verbal erbaute Scheiterhaufen. Auch gegen all das, was man in sich erkennt und wovon man glaubt, es sei nicht mit den zugleich gepriesenen Werten vereinbar, für welche man bekannt sein will: kaum jemand ist gefeit davor, in Versuchung zu geraten, der Einfachheit halber Vorurteile gegen Menschengruppen zu entwickeln oder für plausibel zu halten. Weil es so vieles erklären kann. Weil es auch komplizierte Herausforderungen so simpel in der vermeintlichen Lösung erscheinen lässt. Und weil es das eigene soziale Umfeld davon ablenkt, dass man auch in sich selbst Gedanken und Gefühle erkennt, von denen man fürchtet, für sie, wenn sie von außen erkannt werden, geächtet zu werden. All diese den nach außen vertretenen Werten widersprechenden Gedanken und Gefühle werden daher oftmals verpackt und einer Person umgehängt, zu welcher man davon ausgeht, dass auch viele andere Menschen Anzeichen erkennen können, dass da das eine oder andere Indiz dafür spricht, dass sie die Personifizierung dieser Unwerte sein könnte. Damit das leichter ist, wird auch immer auf für diese Verurteilung sprechende Worte und andere äußere Merkmale hingewiesen – niemals ohne darauf zu verzichten, eine logische Begründung dafür anzubieten, dass all das bekämpfte Übel verschwinden wird, wenn die für den Scheiterhaufen auserkorene Person nur weg ist. Das Übel, welches man an sich selbst zu sehen befürchtet und sich nicht damit auseinandersetzen will. Weil es schmerzen könnte. Weil es mühsam sein könnte. Einfacher, es einer Person umzuhängen, die man dann beobachten kann dabei, wie sie auf dem virtuell geschaffenen Scheiterhaufen brennt.

Was übersehen wird: auch wenn man erfolgreich dabei ist, einen breiten Schulterschluss mit vielen anderen zu schaffen gegen „das Böse“ oder „das Unerklärliche“; auch wenn man erfolgreich dabei ist, das zu bekämpfende Paket an den eigenen Werten scheinbar widersprechenden Haltungen zu personifizieren in einzelne Menschen; auch wenn man erfolgreich in der vermeintlichen Beweisführung ist, die auserwählten Menschen müssten stellvertretend vor sich hergetrieben und gepeinigt werden – natürlich nicht ohne darauf zu verzichten, auch schon mal ein wenig nachzuhelfen mit Provokation und paradoxen Kausalitätsketten; auch wenn dann die Exekution der für drastisch genug erscheinenden Sanktionen am öffentlichen Scheiterhaufen gelingt: es wurde lediglich ein Muster entwickelt und perfektioniert, wie die eigentlichen Herausforderungen mit Chance auf Weiterentwicklung und Wachstum in Wertschätzung anderer Sichtweisen zu Wahrheit zunichtegemacht werden können. Und kaum ist der Scheiterhaufen ausgebrannt, schon wird die Suche nach den nächsten Personen beginnen, die für alles erkannte Übel verantwortlich gemacht werden können.

Schön wäre es, wenn auch die moderne Form der Hexenverfolgung bald ein Ende finden würde; wenn sich Menschen fänden, welche Gefallen daran finden, dieser Verfolgung und Verurteilung ein Ende setzen. Der Gesetzgeber scheint diese Rolle übernehmen zu wollen – denn die zunehmenden Verschärfungen im Strafrecht für Hetze und Verleumdung im Internet scheinen da sehr praktikable Instrumente zu sein. Wirksam scheinen sie allerdings noch nicht, wenn man beobachtet, wie namentlich genannte Menschen verfolgt werden, wie sie mit all dem, wozu breiter Konsens vorausgesetzt wird, dass es nicht erstrebenswert sei, in Verbindung gebracht und verurteilt werden. Erbarmungslos, da diese Menschen ja ohnehin selbst schuld seien. Blind, weil die Fähigkeit zur rationalen Beobachtung abhanden kommt. Unbarmherzig, obwohl im Namen des Guten. Mitten unter uns und nicht bloß in der Theorie oder in Geschichtsbüchern. Was können zum Beispiel Sie noch heute dazu beitragen, dass dies gestoppt wird? Oder will unsere Gesellschaft unter Beweis stellen, aus der Vergangenheit nichts gelernt zu haben?

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