"Der Friede ist mehr wert als die Wahrheit" wird Aristoteles heute manchmal zitiert. Während das einige als den Beweis eines unbestritten sehr gescheiten Menschen aus der Antike werten, dass die Notlüge eine tolle Sache sei, krampft es anderen bei dieser These alles zusammen. Ein Grund, da ein wenig darüber nachzudenken, wie denn unsere persönlichen Erfahrungen sind im Umgang mit Wahrheit und welche Auswirkungen sie auf den Frieden haben kann.
Aus der Kindheit kennen wahrscheinlich die meisten von uns die als Erziehungsinstrument eingesetzte Drohung, uns werde es bei jeder Lüge genauso ergehen wie jenem Zeichentrickhelden, dessen Geschichte uns so gefesselt hat: uns werde eine lange Nase wachsen. Manchen von uns ist auch eine etwas längere Nase gewachsen, die nun unser Gesicht ziert, es ist aber nicht erwiesen, dass zu zahlreiche Lügen dafür der Grund seien. Aber die Nase hat sich sprichwörtlich als jenes Körperteil bewährt, welchem angesehen werden kann, ob gerade geflunkert wird: "Ich sehe Dir an der Nase an, dass da jetzt etwas nicht passt" bringt oft zum Ausdruck, dass den gehörten Worten irgendwie etwas zu fehlen scheint, dessen es bedarf, um als Wahrheit gesehen und gespürt zu werden.
Wir Menschen haben eine aus einer Vielzahl von Lauten, welche wir Sprache nennen, ein Werkzeug zur Verständgung entwickelt. Dabei übersehen wir allerdings oftmals, dass Kommunikation nicht nur bei Tieren, sondern auch bei uns Menschen auf vielen anderen Ebenen ebenfalls stattfindet: Mimik, Gestik, Lautstärke, Blickkontakt, Hautfarbe ... bei all diesen für einen aufmerksamen Menschen sehr rasch identifizierbaren Elementen des Austausches von Gedanken und Gefühlen werden viele bereits erkennen, dass Sprache tatsächlich auf vielen Ebenen anzutreffen ist - micht nur in Worten. Kommt dann noch die telepathische Verbindung zwischen Lebewesen hinzu, auf welcher Gedanken ud Gefühle gleichermaßen übertragen werden, so erkennen wir rasch, dass die in der Bibel beschriebene babylonische Sprachverwirrung wohl weniger auf den Umstand verschiedener Muttersprachen zurückzuführen ist, als vielmehr darauf, dass wir Menschen uns über all das Lernen von Vokabeln davon ablenken lassen, dass Sprache weit mehr ist. Eine Verwirrung, welche kleine Kinder noch nicht haben, da sie auf nonverbaler Ebene Austausch pflegen können ohne Missverständnisse und dabei ohne einer Lüge, welche auf diesen Ebenen gar nicht möglich ist, zu friedvollem Miteinander finden.
Sprachliche Lüge führt also zwangsweise zu einer Diskrepanz zwischen den nonverbalen Signalen und den in Worte gefassten Botschaften, welche wir absetzen. Etwas, das vom Gegenüber gespürt wird. Selbst bei Profis im Pokerspiel nahezu ein Ding der Unmöglichkeit auch bei jahrzehntelangem Training, den eigenen Körper so im Griff zu haben, dass ein sehr aufmerksames und achtsames Gegenüber die Lüge nicht zu spüren vermag. Ein Umstand, der Vertrauen und nachhaltigen Frieden wohl weniger zu bewirken vermag.
Bleibt also noch zu klären, was denn unter Wahrheit verstanden werden kann. Da hilft ein sehr simples Experiment zu erkennen, dass sie so viele Seiten haben kann, wie es Menschen gibt, welche sie betrachten: nehmen Sie einen 10-Euro-Schein. Halten sie ihn zwischen sich und ihr Gegenüber mit der Bitte, dass sie sich nun gegenseitig jedes Detail schildern, das sie beim Betrachten dieses einen Gegenstandes, der ihnen doch eigentlich vertraut ist, erkennen. Schon bald werden sie erkennen, dass es hier unterschiedliche Wahrheiten gibt: denn es haben beide Seiten Recht, wenn sie darauf beharren, einer eine Europalandkarte zu sehen, während von der anderen Seite betrachtet das Eerkennen eines Tores der Wahrheit entspricht. Und so ist es mit so gut wie allen Sachen: Wahrheit hat so viele Gesichter, wie sie Betrachterinnen und Betrachter hat.
Nein, blind unterschreiben und zum eigenen Lebensmotto erheben sollte man die Weisheit von Aristoteles daher nicht. Eine Notlüge mag vielleicht oberflächlich kurz den Druck aus einer Situation herauszunehmen. Gleichzeitig führt die Diskrepanz zwischen gehörter und gespürter Aussage allerdings zu einem Abbau von Vertrauen - dessen es bedarf, um nachhaltigen Frieden wahren zu können.
"Die Menschen haben die Wahrheit verdient" gepaart mit Max Frisch´Empfehlung, man möge die Wahrheit wie einen Mantel anbieten, auf dass das Gegenüber bequem hineinschlüpfen kann und nicht wie einen nassen Fetzen dem Gegenüber um den Kopf schlagen scheint eher geeignet, Frieden zu bewirken als dies Lüge kann.