Liebe als partnerschaftliches Projekt der Selbstzerstörung

Ich habe mir wieder einmal „Vertigo“ von Alfred Hitchcock aus den späten 1950er Jahren angesehen. Ein psychologischer Thriller, der vom Polizisten John „Scottie“ Ferguson erzählt. Der leidet nach einer Verbrecherverfolgung an Höhenangst und kann so seinen Beruf nicht mehr ausüben. Trotzdem lässt er sich von einem Schulfreund Elster breitschlagen, sich um dessen junge Frau Madeleine zu kümmern. Sie lebt im Wahn, das Schicksal ihrer spanischen Urgroßmutter zu teilen, um sich zu ihrem 26. Geburtstag in den Tod zu stürzen. Prompt verliebt sich Scottie in Madeleine und versucht mit allen Kräften, sie vor sich zu beschützen und von ihren Zwangsvorstellungen zu befreien. Und er kommt dabei an seine Grenzen. Als sie nach einer nächtlichen Spazierfahrt auf den Turm eines Klosters stürmt, kann ihr Scottie, gepeinigt von seiner eigenen Angst vor der Tiefe nicht folgen, um sie von ihrem Todessprung abzubringen. Entsetzt sieht er sie rettungslos auf das Klosterdach fallen.

Nach diesem vermeintlichen Selbstmord lernt Scottie die junge Verkäuferin Judy kennen, in der er Madeleine wiedererkennen will. In ihr sieht er die Chance, Madeleine nochmals ins Leben zurückzubringen, jedenfalls sie zum Ebenbild seiner verstorbenen Liebe umzuformen. Er lässt Judy einkleiden als ihre Wiedergängerin; sie soll das Haar wie sie tragen und sich wie sie verhalten. Nach erstem Widerstreben fügt sie sich in die neue, ihr zugewiesene Rolle und gibt sich ihrerseits als Liebende zu erkennen. Als beide sich zum Abendessen verabreden, verrät sie ein Bracelet, das sie bereits als Elsters Frau getragen hat und nun für ihn anlegt: Judy ist Madeleine. Und Scottie muss zur Kenntnis nehmen, dass er das Opfer einer infamen Verschwörung seines Schulfreundes geworden ist. Darin ist Madeleine die Rolle zugekommen, Scottie so zu täuschen, sodass Elster seine wirkliche Frau ohne jeden Verdacht umbringen konnte. Madeleine sollte für Scottie das Double der Ehefrau spielen. Dazu gehörte, auf die Spitze des Turms der Klosterkirche zu stürmen. Dorthin, das wusste Elster, konnte ihr Scottie nicht folgen, um Augenzeuge zu werden beim Versuch Elsters, seine Ehefrau in den Tod zu stoßen. Madeleine hatte ihren Auftrag erfüllt und wurde von Elster mit Kleidern und Schmuck in ihr altes Leben entlassen.

In seinem Zorn fährt Scottie die junge Frau nochmals zum Kloster. Sie soll ihm den Tathergang zeigen. Diesmal gelingt ihm der gemeinsame Aufstieg auf den Turm, wenn auch mit Mühe. Noch einmal versucht Judy/Madeleine, ihn von ihrer Liebe zu überzeugen. Vergeblich. Als sich ihnen in ihrer wilden Auseinandersetzung einer dunklen Gestalt nähert – eine besorgte Klosterschwester war ihnen nachgestiegen – löst sich Elsters Komplizin aus der Umklammerung und stürzt von der Brüstung des finsteren Turms in den Tod. Wieder kann Scottie ihr nur entsetzt nachsehen – und erkennt, dass er von seiner Höhenangst befreit ist.

Kritiker*innen halten Vertigo für Hitchcocks persönlichsten Film. Das können wohl am besten seine Biograph*innen beurteilen. In jedem Fall stellt er eine herausragende Metapher für menschliche Beziehungen dar, die zwischen Täuschung und Selbsttäuschung im Rahmen der Liebe changieren. Und in dieser Unentschiedenheit auf die endlose Wiederholung von selbstzerstörerischen Verhaltensmustern bis hin zum Tod hinauslaufen. Katja Eichinger in „Liebe und andere Neurosen“ sieht in diesen Film eine exemplarische Darstellung der Wechselspiele und Widersprüche, die nach ihr den meisten Liebesbeziehungen innewohnen würde: zwischen Projekte und Realität, zwischen Verschmelzung und Individualität, zwischen Eros im Sinne von Kreation und Erneuerung sowie Thanatos als das Ende einer Person, eines Begehrens oder eben auch das Ende einer Liebesgeschichte.

Als solcher lädt Vertigo noch einmal dazu ein, darüber nachzudenken, was im Liebesverhältnis zwischen Scottie und Madeleine/Judy passiert; einem Verhältnis, das im Wesentlichen auf Fehlinterpretation des anderen bzw. seiner/ihrer Täuschungsabsicht beruht. Und darüber vergessen machen, dass sie einander gar nicht einander lieben. Sondern die Bilder, die sie sich voneinander gemacht haben, weil sie die Wirklichkeit des anderen nicht zu erkennen vermögen (und dazu noch absichtsvoll getäuscht werden). Einmal produziert, sind sie bereit für die Aufrechterhaltung dieser Bilder, wenn es sein muss, auch in den Tod zu gehen. Das wird dort besonders deutlich, wenn Scottie sich in seinen männlichen Rettungsphantasien betrogen sieht, zumal er darin den „Sinn“ dieser Liebe zu erkennen glaubt.

Dass Scottie am Ende eben diese Liebe, oder das, was er dafürhält, gleich zweimal verliert und sich gerade durch den zweiten, endgültigen Liebesverlust von seiner Höhenangst befreit, gehört zu den besonders bitteren Erkenntnissen dieses Films. Aber auch dafür hat Eichinger eine Interpretation bereit, diesmal von Albert Camus, der einmal „Glück und Absurdität als Kinder ein und derselben Erde“ beschrieben hat.

Wenn das stimmt, dann hilft vielleicht das Eingeständnis, dass wir nur lieben können, wenn wir bereit sind, einander fremd zu bleiben. Um einander auf immer neue Weise zu suchen. In einer solchen gegenseitigen Haltung kann die Hoffnung auf umfassende Verschmelzung keine dauerhafte Erfüllung finden. Sie wird sich auf wenige Momente im Leben beschränken. Dafür Reichtum dort eröffnen, wo wir ihn nicht vermuten. Und sei es in der Fähigkeit, mit Hilfe des anderen ganz zu sich zu kommen.

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