Man muss sich das einmal vorstellen: Ein Reaktor geht hoch, irgendwo zwischen Wittenberg und Würzburg. Glühende Trümmer, sirrende Messgeräte, die Regierung appelliert an die Vernunft – und noch bevor das ZDF die Sondersendung startet, läuft schon auf Telegram: „Jetzt beginnt die Atomlüge!“
Wenige Stunden später: erste Videos. Ein Mann im Wohnmobil, Selfie-Modus, Alufolie als Hintergrund. „Ich bin hier direkt neben der Wolke – nichts zu sehen, nichts zu riechen! Die Strahlung? Ein Messfehler. Wahrscheinlich 5G.“ Applaus im Chat. Herzchen. Flammensymbole. Schließlich ist der Deutsche an sich ja gern Experte, wenn’s um Dinge geht, die er nicht versteht.
Der Widerstand der Glühenden
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Kaum sind die ersten Evakuierungsaufrufe draußen, formiert sich der „Widerstand gegen die Strahlungsdiktatur“. Demos auf Marktplätzen. Menschen mit Transparenten: „Mein Körper, meine Halbwertszeit!“ Daneben ein Banner: „Uran ist Natur – lasst es leben!“ Maskenpflicht? Wird boykottiert. Schließlich atmet der Querdenker frei – und wenn’s radioaktiv ist, dann bitte selbstbestimmt.
Ein Heilpraktiker empfiehlt Radieschensaft gegen Strahlung, ein YouTube-Arzt rät: „Bleiben Sie in Schwingung, das blockt Gammastrahlen.“ Wer widerspricht, ist „vom System bezahlt“. Und sobald Physiker erklären, wie Plutonium funktioniert, heißt es: „Typisch – Elitenwissenschaft! Die reden in Formeln, weil sie was zu verbergen haben.“
Von der Lüge zur Leuchtkraft
Nach wenigen Tagen kursieren alternative Erklärungen: Das war gar keine Explosion, sondern eine bewusst herbeigeführte „energetische Entladung“, um die Bürger zu kontrollieren. Die Strahlung? Ein psychologisches Konstrukt. „Ich kenne niemanden, der leuchtet“, schreibt jemand. Ein anderer behauptet, die Messwerte seien manipuliert, weil sein Geigerzähler – ein Second-Hand-Gerät von eBay – „nichts anzeigt“.
In Talkshows fordern Querdenker „Meinungsvielfalt“, also Physik plus Pendel. Man müsse „alle Stimmen hören“, auch die von Leuten, die glauben, Strahlung sei einseitige Berichterstattung. Moderatorinnen versuchen sanft zu korrigieren, doch die Antwort kommt wie ein Reflex: „Darf man das jetzt nicht mehr sagen?“
Der Stolz der Verstrahlten
Einige Monate später erzählt ein Influencer aus dem Krankenhaus: „Die Ärzte behaupten, ich hätte Strahlenschäden – dabei habe ich nur Entgiftungssymptome vom Mainstream.“ Unter seinem Video: 40.000 Likes. Kommentar: „Bleib stark, Bruder, die Wahrheit kommt raus!“
Währenddessen diskutieren die gleichen Kreise schon die nächste These: „Vielleicht war das gar kein Reaktor, sondern ein Laser aus Davos?“ Und wenn schließlich die Regierung erklärt, das Land müsse radioaktive Gebiete räumen, ruft eine Bewegung: „Wir bleiben hier! Wir leuchten für die Freiheit!“
Der letzte Rest Vernunft verdampft
Später, wenn das halbe Land Sperrgebiet ist, wird sich einer an einem Lagerfeuer in Thüringen erinnern: „Weißt du noch, Corona? Da haben sie uns mit Zahlen tyrannisiert. Und jetzt soll’s wieder Strahlung geben! Ich spüre nichts!“ – Vielleicht stimmt das sogar. Dummheit ist bekanntlich eines der wenigen Elemente, die wirklich stabil sind.