Ein notwendiges Fragment

Abgesehen von der frühen Kindheit und von linearen Arbeitsverhältnissen handeln wir meist ohne Auftrag und ohne Dank. Warum glauben wir also an einen hinter den Dingen stehenden großen Auftraggeber und an die Berechtigung seiner und unserer Vergeltung?

Die Arbeitsverhältnisse haben sich eigentlich schon gebessert. Tatsächlich standen aber fast hundert Jahre lang entfremdete Menschen an seelenlosen Fließbändern und drehten an der einen sprichwörtlichen Schraube, die ihnen genauso sinnlos erscheinen musste wie ihr ganzes Leben. Geblieben ist das Wort Entfremdung für Verhältnisse, die nicht überschaubar sind. Aber wann sind denn die Verhältnisse für uns überschaubar? Wenn Hegel schreibt, dass der Unwissende in einer fremden Welt lebt, die er nicht versteht, weil er sie nicht gemacht hat, dann gilt das für die überwiegende Menge der Menschen, für die tatsächlich Unwissenden vielleicht noch ein bisschen mehr. Wir können und wollen nicht plötzlich den Wert der Bildung bestreiten. Aber die Welt verstehen? Hegel ist also nicht der Beginn einer neuen offenen Weltsicht der Relativität, sondern das Ende einer geschlossenen, letztlich mechanischen Denkwelt, die auf Ursache und Wirkung, gut und böse, Gott und Ungott und eben auch Auftrag und Vergeltung beruhte. Seine Schriften sind genauso faszinierend wie krank. Sein Weltgeist hat zwar den Namen gewechselt, aber nicht sein Wesen. Deshalb behaupten Autokraten gern, dass sie einen göttlichen Willen verwirklichen würden. Was sie tatsächlich verwirklichen wollen, ist immer und nur die Vergangenheit. Denn die Zukunft können wir nicht verwirklichen, weil wir sie nicht kennen. Eine Vision ist immer ein Wagnis, ein Schritt in die Dunkelheit. Der erste Mondbetreter hat es schon ganz richtig gesagt oder es ist ihm gesagt worden: eine visionäre Tat ist für den einzelnen Menschen nur ein winziger, für die Menschheit aber ein riesiger Schritt. Jahrtausende haben die Menschen vom Mond geträumt, weil er allgegenwärtig, aber unbegreifbar ist. Die Landung auf dem Mond erforderte Mut, aber brachte keine Konfliktlösung auf der Erde. Vielleicht wird gerade deshalb auch diese Mondlandung angezweifelt und für eine propagandistische Fakemeldung statt einer Tatsache gehalten. Jeder Auftrag muss nach alter mechanischer Ansicht auch einen Nutzen haben: cui bono [Cicero] = wem nützt es?*, wird oft gefragt, und der Frager glaubt, wenn er die Antwort weiß, dann kennt er die Ursache, dann versteht er die Welt. Stattdessen stürzt der aktuelle Nutzen den Verursacher oft in ein Dilemma, bei dem uns nur wundern sollte, dass es schon so lange bekannt und benannt, und trotzdem immer wieder nicht begriffen ist: Es gibt nicht die eine Lösung. Es gibt nicht den einen Verursacher. Es gibt nicht hier die Ursache, da die Wirkung. Des einen Nutzen ist nicht zwangsläufig des anderen Schaden. Ein Parasit muss nichts schlechtes sein, es gibt überhaupt nicht das Gute und das Böse. Wenn das Böse das Unterlassen des Guten ist, dann gibt es nur eine Kategorie, so wie es auch nur eine Temperatur gibt, und nicht Wärme und Kälte.

In wessen Auftrag handeln wir also und wessen Dank erwarten wir? Wir stehen gleichermaßen in einer langen Reihe der Urahnen und Kindeskinder wie auch allein. Unser Auftrag ergibt sich daraus, dass wir fähig sind, unsere Endlichkeit zu bedenken, nicht die Endlichkeit der Menschheit, sondern unsere individuelle Endlichkeit:

Was du tust, so bedenke das Ende, so wirst du nimmermehr Übels tun. [Jesus Sirach 7,40]

So und so ähnlich lauten die Mahnungen aller Philosophien und Religionen. Noch deutlicher stimmt die Kunst mit ein: Alle Menschen werden Brüder, all you need is love. Aber wir wollen all diese Botschaften nicht hören. Statt dessen glauben wir lieber, dass das Medium die Botschaft sei oder dass die Welt in Beliebigkeit versänke, wenn man nicht einer der tausend sich für richtig haltenden Ideologien folgte, die alle kostenlose Wässer und Weisheiten versprechen.

Es gibt keinen Auftraggeber, der sich verschworen hätte, die Welt zu beherrschen. Es gibt keine Berechtigung zur Vergeltung, wenn jemand vom Weg abweicht. Merkwürdig ist, dass gerade immer diejenigen am lautesten nach einem Richter schreien, die sonst behaupten, es gäbe nur einen Weltenrichter. Dieser Weltenrichter ist das eigene Ende. Wir sollten unser Leben so einzurichten versuchen, dass etwas von uns bleibt: unsere Kinder, unsere Gedanken, ein Haus, ein Baum, Treue zu einem Menschen, ein Trost, eine Hoffnung, ein Euro für den, der darum bittet.

Das Gute ist unendlich, sowohl als Tatsache wie auch als Möglichkeit. Dagegen ist das Böse, die Unterlassung des Guten, immer endlich.

Leider hat nicht jeder Mensch immer Glück. Das Leben mag im großen und ganzen sinusförmig sein, aber es ist nicht für jeden einzelnen harmonisch. Mancher mag sogar aus dem Leid Produktivität ziehen können ('Schmerz gebäre Tat', [Ernst Toller]), aber manch anderer zerbricht an seinem Leid, von dem wir gerne sagen, dass es ihm oder uns auferlegt sei. Glück gehört nicht zu den Gewährleistungen. Harmonie ist nicht versprochen. Aber zu jedem Erfolg gehört auch immer Glück. Aber der Erfolg lässt sich nicht berechnen. Demzufolge ist der Ruf nach Bescheidenheit und Demut verständlich und hilfreich. Besser ist es jedoch optimistisch und selbstbewusst zu sein. Man kann besser helfen, wenn man von sich glaubt, dass man ein Helfer sei. Die Welt wird besser, weil und wenn wir mehr geben als nehmen.

* aber: cum hoc ergo propter hoc

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robby

robby bewertete diesen Eintrag 15.04.2018 22:53:28

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