Zweiter Hauptsatz:

THE MORE I GIVE THE MORE I HAVE shakespeare

Vom Delta-Geben

Ein Mann wird von einem halbwüchsigen Jungen durch den Londoner Nebel geführt. Am Ziel angekommen, fragt der Mann nach seiner Schuldigkeit, aber der Junge antwortet: ich bin doch Scout. Natürlich ist das ein Gründungsmythos voller Symbole. Der Mann wurde der erste Pfadfinder in den USA, und der Junge, wir wissen es nicht, bestimmt auch etwas bedeutendes. Warum brauchen wir immer wieder moralische Erneuerungen, neue Mahnungen, das Gute zu tun, und Erklärungen, was das Gute ist? Einmal schleifen sich eingeübte Verhaltensweisen ab, verblassen wie die Dateien, in denen sie gespeichert sind. Und zum anderen bestimmt sich auch immer wieder neu, was gut ist. Galten früher moralische Grundsätze nur regional, wollen wir sie heute global bestätigt sehen. Auch gibt es heute weitaus mehr Menschen als früher, so dass auch die Erreichbarkeit mit traditionellen Inhalten fragwürdig wird. Das gilt aber fast nur für das lange Zeit wachsende Europa. Merkwürdigerweise haben zwei ganz unterschiedliche Denker vorausgesagt, dass die menschliche Gesellschaft sich alle fünfzig Jahre so erneuert, dass die jeweils alten Menschen die Welt nicht mehr verstehen. Der eine ist Goethe, und er schrieb es in einem seiner sympathischsten Bücher, nämlich in ‚Maximen und Reflexionen‘. Es ist dies eine sehr frühe These für eine noch zu entwickelnde mentale Geriatrie: alt werden kann man nicht lernen, man muss es tun. Der zweite Denker ist Kondratieff, der zwar nicht für diese These, aber für seine Gesamttheorie erschossen wurde, weshalb wir diesen fünfzigjährigen Innovationszyklus nach ihm benannt haben. Er hat die kapitalistische Wirtschaft beobachtet und ist auf diesen Abstand der Berge und Täler sinnvollen Wirtschaftens gekommen.

α

Wir wollen das Geben probehalber in vier Kategorien unterteilen. Die erste und einzig negative Kategorie des Gebens ist das Wegnehmenlassen. Rousseaus berühmtes Beispiel, dass, wenn uns die Geldbörse gestohlen wird und wir sie dem Räuber geben, weil uns unser Leben lieb ist, dieselbe Geldbörse unser Besitz bleibt und sich also zeigt, dass es kein Recht des Stärkeren, sondern nur unrechtmäßige Gewaltanwendung gibt, der wir uns auch beugen sollten, dieses berühmte Beispiel ist so einleuchtend wie wirkungslos. Denn viele Menschen glauben sich nicht nur betrogen und bestohlen, sondern sehen sich von Stärkeren umstellt, die ihnen aufzwingen, was Recht und Ordnung zu sein habe. Selbst wer in die Demokratie flieht, glaubt weiter an Polizei und Gewalt. Wer wenig weiß, kann sich das Neue noch nicht einmal analogisch erschließen. Für ihn wird das Leben erst nekrologisch logisch. Da der Dieb meistens zu der Gruppe der Zukurzdenker gehört, ist es unwahrscheinlich, dass er aus seinem Nehmen, unserem Geben, etwas Gutes macht, wenn auch der Spruch ‚unrecht Gut gedeihet nicht‘ andersherum, als Warnung vor dem falschen Nehmen, nicht als Warnung vor dem falschen Geben, gemeint war.

β

Weit verbreitet ist die Ansicht, dass man geben sollte, um nehmen zu können. Eine Hand wäscht die andere, gut, aber was macht der Einarmige? Selbst der anthropomorphe Gott soll nach anthropomorpher Ansicht so handeln: dient man ihm, so dient er uns. Als pragmatischer Grundsatz mag die Maxime taugen, für den Verkehr mit den netten Nachbarn, für die Beantwortung der Frage, wer bezahlt den nächsten Espresso in der Betriebskantine. Aber für das Leben schon eines einzelnen Menschen reicht das Sätzchen nicht aus. Wir erleben, dass es höhere Motive, tiefere Abgründe und demzufolge weitaus kompliziertere Rechnungen gibt. Die Spieltheorie hat viel zum Verständnis des menschlichen Lebens beigetragen. Zwar ist ‚tit for tat‘ (wiedumir, soichdir) ein durchaus auch längerfristiges Erfolgsversprechen, jedenfalls erfolgreicher als Defektion (Schwinden der Kräfte, Ablehnung der Kooperation), aber im wiederholten Gefangenendilemma, wenn ich also weiß, wie der andere entscheidet, nicht tauglich. Überhaupt setzt wiedumir oder β-geben einen Anfang voraus, ist nur Antowrt auf etwas schon vorhandenes, kann also zu wenigstens fünfzig Prozent ‚gut‘ sein. Ein immer beantwortendes Verhalten lässt aber keine Neuerung zu. Irgendjemand muss vom Ulmer Münster oder über den Bosporus fliegen. Nicht jeder von uns kann Albrecht Ludwig Berblinger, der Schneider von Ulm und punktgenauer Zeitgenosse Beethovens, oder Ahmed Celebi sein, aber jeder sollte es sein wollen und können.

γ

Niemand ist frei davon zu schenken, weil er sich ander Freude des Beschenkten freuen will. Davon zeugen schon einmal die vielen Gelegenheiten und Feste, die auf Essen und Schenken beruhen. Freude bereiten heißt in diesem Sinne geben oder schenken. Es ist natürlich und legitim. Man entdeckt auch lange Zeit nicht die Kehrseite, genauso lange will man sie nicht wahrhaben. Aber der Tag kommt, an dem man erkennt, man kann weder einen Menschen mit Geschenken oder anderem Gutsein binden, noch werden diese Geschenke immer weiter die Freude auslösen, die sie beim ersten Mal erzeugten. Das Gute und das Böse lösen bei uns leider auch Gewöhnungsmechanismen aus, ja das Böse ist überhaupt nur durch sie zu ertragen. Und schon ahnt man: auch das Gute ist schwer und letztlich nur durch Gewöhnung zu ertragen. Das mentale Gefälle erscheint uns immer eher als Ungerechtigkeit denn als Ansporn. Wir jammern lieber als zu loben. Alles erscheint uns beklagenswert, auch und gerade das für den Anderen Gute. Wir wollen nicht das Gute an sich kennen, weil wir es lieber bestreiten als es zu befördern. trotzdem: lasst uns weiter Weihnachten und Bayram Ramazani feiern und uns an den leuchtenden Augen der Beschenkten freuen. Aber lasst uns doch auch endlich aus den stumpfen Augen der Enttäuschten lernen: Es gibt nur eine art des Gebens, die keine Enttäuschung auslöst.

Δ

Der satz the more i give the more i have for both are infinite, den Julia zu Romeo sagt, erweist sich als universell. In der liebe, wie hier offensichtlich gemeint ist, ist seine Wahrheit offensichtlich. Wenngleich jeder Liebende, der zugleich auch noch ehrlich ist, eingestehen wird, dass er nicht genau weiß, ob er nicht etwa liebt, um geliebt zu werden, und dass sein Gegenüber, wenn es genau so denkt, die Differenz auch gar nicht bemerken könnte. Indessen wäre die Liebe nicht transzendent, wenn sie genauso funktionieren würde wie der Konsum. Liebe entsteht durch das Risiko, welches wir eingehen, um den anderen zu gewinnen, aber nur dadurch, dass wir ihn auch verlieren können. Merkwürdigerweise gilt das aber auch in der Wirtschaft. Der Markt ist genauso chaotisch und tragisch wie die Liebe. Am Markt und in der Liebe wird nur derjenige auf Dauer erfolgreich sein, der mehr zu investieren bereit ist als er zu gewinnen hofft. Eine reine Konsumwelt würde sich selbst aufzehren! Den Hunger zu besiegen war ein Ziel der Menschheit, nicht den Konsum oder gar das Geld zum Gott zu machen. Geben ist auch evolutionär das stärkere Prinzip. Der Geber wird geachtet und geliebt, zumindest will man seine Gene weitergeben. Reine Konsumenten sind letztlich Schmarotzer, deren belebende Bedeutung man allerdings auch nicht unterschätzen sollte. Jedoch sind nur Asketen und Stifter wahrlich glücklich.

Wer andere durch den Nebel führt, gerät nicht selbst hinein, sondern heraus. Liebe ist die beste Investition. Investieren ist immer gesünder als profitieren. Man kann das eine schlechterdings nicht ohne das andere.

Ein Delta ist Anfang und Ende. Der Fluss diversifiziert sich und mündet in ein höheres Prinzip. Aber die Pflanzen, Tiere und Menschen gewinnen aus diesem Ende den Anfang, die Fruchtbarkeit. Der Buchstabe dafür ist gleichzeit Bild, Anfang und Ende der Bildersprache und Symbolschrift, die Metapher wird zur wirklichkeit, wo vorher das wahre Leben Metapher wurde.

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