Mein Leben an der Seite eines psychisch Kranken (3)

Ich dachte immer, dass jedem ein Urlaub gefällt. Dass es aber Menschen gibt, die Urlaub stresst, das mußte ich erst lernen.

Ich war es gewohnt, Urlaube nicht unbedingt zu Hause zu verbringen. Für mich war das etwas ganz Normales. Leute, die immer zu Hause bleiben, fand ich ein bißchen seltsam, machte mir aber keine großartigen Gedanken über sie.

Es geht nämlich nicht immer darum, dass sie sich keinen leisten können. Manche haben einfach Angst vor dem Ungewohnten, dem anderen. Sie müssen ihre ganze Kraft und ihren Mut aufbringen, um eine Reise anzutreten.

Ich plane gerne Reisen, denn dann kann ich mich schon lange darauf freuen. Dieses Thema kam aber bei meinem Mann gar nicht gut an. Entweder sprach er schnell von etwas anderem, hatte keine Zeit oder versuchte, durch grantige Kommentare meine Pläne abzuwehren.

Mich interessiert ein Land oder eine Stadt oder ein Volk oder eine Landschaft, und nach diesen Vorlieben suche ich mir mein nächstes Reiseziel. Seine Herangehensweise war eine andere. Es mußte ein relativ neues Hotel sein (maximal ein paar Jahre alt), nicht abgewohnt und perfekt geputzt. Wo dieses Hotel steht, ist nicht unbedingt wichtig. Ihn sprechen keine Bilder an von etwas Gemütlichem (da könnte sich Staub im dicken Vorhang ansetzen), sondern idealerweise Zimmer ohne Teppiche, kahle Räume, keine Pflanzen, wenig Stoff. Und das Bad darf keinen Schimmel haben, das ist das Allerwichtigste.

So entwickelten sich fast jedes Wochenende Diskussionen über die nächste Reise, denn er wollte nicht darüber reden und ich wollte schon alles unter Dach und Fach bringen. Unzählige Ausreden hatte er parat, warum er sich jetzt nicht damit befassen konnte. Und wenn es ihm zu viel wurde, wurde er verbal aggressiv und beschimpfte mich. Dann kamen mir die Tränen. Die führten nicht dazu, dass er mich tröstete, sondern sie stressten ihn noch mehr. Er wußte nicht, wie er damit umgehen sollte. Denn Empathie ist immer wieder ein totales Fremdwort für ihn. Mit den Emotionen seiner Mitmenschen kann er ganz schlecht umgehen..

Statt zu diskutieren, schlug ich vor, dass ich den Urlaub alleine verbringen würde, und er könne ja zu Hause bleiben. Nein, das wollte er auch nicht. Er wollte ja mit mir zusammen sein, aber halt nicht dann und dort usw. Wieder nur Ausreden.

Hatten wir es dann doch geschafft und eine Reise gemeinsam angetreten und waren wir im Hotel angekommen, begann ein Ritual, das ich noch unzählige Male mitmachen sollte. Wir wechselten mehrere Male das Zimmer. Eines war nicht sauber genug, ein anderes machte ihn depressiv, das dritte hatte eine miese Aussicht.

Immer landeten wir beim Hotelmanager und es entspannte sich eine impulsive und emotionale Diskussion. Mir war das Ganze nur peinlich, und es war unsäglich ermüdend. Nach mehreren Stunden wurden wir oft upgegradet, und er freute sich über seinen Erfolg. Er hatte es aber ursprünglich nicht darauf abgesehen. Wo sich ein anderer denkt „Na ja, kein besonderes Zimmer, aber was soll's“, zeichnete sich bei ihm eine hochgradige Krise ab. Er verfiel in eine Depression, aber eine, die ihn ganz aktiv machte. Er mußte das Unglück des schlechten Zimmers abwehren, sonst würde er depressiv werden. Und er mußte der Gewinner in der Auseinandersetzung sein, denn sonst würde er als Verlierer wieder in eine Depression fallen. Seine einzige Antriebskraft war Angst, die pure Angst. Aber das verstand ich erst viel später.

Wie ein verfolgtes Tier lief er danach durch die Hotelanlage und sah sich alles an, bekam schön langsam das Gefühl, er hätte alles unter Kontrolle. Dann beruhigte er sich etwas.

Das Zimmer, geschweige, das Hotel zu verlassen, war das nächste Problem. Er schlief sehr lange und kam danach nur langsam auf Touren. Ich saß schon auf Nadeln und wollte endlich den Tag beginnen, hinausgehen, etwas entdecken, die Eindrücke auf mich wirken lassen. Er mußte zuerst seine Rituale abarbeiten. Dazu gehörten fix eingeplante Toilettengänge zu ganz bestimmten Zeiten. Und diese nur auf einer wirklich sauberen Toilette, also der des Hotelzimmers. Vor 13 Uhr war mit ihm nichts zu machen.

Ich war verzweifelt, die Tage vergingen und mein Leben mit ihnen. Nichts passierte. Meine Versuche, etwas alleine zu unternehmen, scheiterten. Entweder überredete er mich im Guten oder er fuhr wieder über mich drüber, sodass ich nicht noch einen größeren Streit heraufbeschwören wollte. Für ihn war es wichtig, auch mich unter Kontrolle zu haben. Auch dahinter steckten Ängste, dieses Mal die des Verlassenwerdens.

Kehrten wir von einer Urlaubsreise zurück, waren wir offensichtlich an zwei verschiedenen Destinationen gewesen. Von Ländern, die mir gefallen hatten, hatte er nur Horrorgeschichten zu vermelden. Die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, hatte ich interessanterweise ganz anders in Erinnerung. In seinen Erzählungen war er der große Macher, obwohl er die meiste Zeit im Zimmer verbracht hatte.

Ich dachte mir jedes Mal „Nächstes Mal fahre ich alleine, und dann kann ich endlich ich sein!“, und jedes Mal wieder machte ich mich gemeinsam mit ihm auf den Weg.

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Herbert Erregger

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