Der Stau und seine Beziehung zum Ungewußten

Zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten gehören die Meldungen über Staus auf den Autobahnen zum selbstverständlichen Service jeder Radiostation. Ein bundesweiter Sender wie der Deutschlandfunk meldet zuzeiten lediglich jene Staus, die über 5 oder 10 oder gar 15 oder 20 km lang sind.

20 km Stau - das gibt zu denken. In Deutschland liegen die Autobahnausfahrten relativ dicht beieinander. 10 km Fahrt zwischen zwei Ausfahrten ist schon lang, häufig sind die Abstände deutlich kürzer, vor allem in den Ballungsgebieten, wo auch die Staus wahrscheinlicher sind.

Ich, der ich in inzwischen 54 Führerscheinjahren sehr selten in wirkliche Staus gekommen bin, stehe jedesmal fassungslos vor der Radiomeldung von 20 oder 30 km Stau. Viele dieser im Stau festsitzenden Autos stehen doch unmittelbar vor einer Autobahnausfahrt, die müßten doch bloß nach rechts lenken und könnten dann auf der Landstraße weiterfahren. Unbequem und vielleicht nur langsam weiterfahren, aber eben doch weiterfahren, statt für unbestimmte Zeit hilflos im Stau feststecken zu müssen. Das ist ja das Unangenehme am Autobahnstau: dieses hilflose Ausgeliefertsein an eine Situation, die du nicht mehr beeinflussen kannst. Das kann bald wieder weiter gehen, das kann aber auch noch viele Stunden so dauern.

Warum, frage ich mich seit langem, fahren die Leute nicht raus?

Weil's dort auch nicht weitergeht, werden einige sofort antworten. Andere Autofahrer, so die naheliegende Überlegungen haben die Staumeldungen im Radio gehört, sie haben die Autobahn lange vor dem Stau bereits verlassen oder sie fahren gar nicht erst drauf. Sie fahren nun auf der Landstraße und die ist natürlich noch schneller verstopft als die Autobahn. Es geht also auch dort nicht weiter.

Vor vielen Jahren fuhren wir Ende August von Regensburg aus an die norditalienische Adria. Lange vor Salzburg hörten wir auf Ö 3, daß es vor dem Tauerntunnel einen ca. 3 km langen Stau gebe. Es wurde eine Umleitungsempfehlung über die Autoverladung Mallnitz gegeben. Wir haben lange hin und her überlegt, ob wir dieser Empfehlung folgen sollten. Wir dachten, es werde auf dieser empfohlenen Umleitung der Teufel los sein, weil jetzt alle, die noch nicht im Stau stehen, von der Autobahn runter fahren und diese Route benützen werden.

Wir sind dann doch abgebogen und - nichts war. Total tote Hose auf der Straße nach Mallnitz. Auch bei der Autoverladung war nichts los, keine Wartezeit, wir konnten sofort auf den Zug fahren und waren in kürzester Zeit durch den Eisenbahntunnel durch. Und die ganze Zeit über hörten wir wieder und wieder die Meldungen, daß der Stau vor dem Tauerntunnel immer länger werde und man doch bitteschön auf die Autoverladung...

Auf der Rückfahrt ist uns das gleiche noch mal passiert, diesmal von der anderen Seite. Die Tauernautobahn war bereits kurz hinter Klagenfurt absolut dicht, wir sind auf der parallel dazu verlaufenden Bundesstraße gefahren, auf der normaler Verkehr ohne Behinderungen war. Und immer wieder öffnete sich der Blick zur Autobahn mit den stehenden Kolonnen.

Warum also fahren die Leute nicht raus?

Die Erklärung liefert vielleicht eine Beobachtung aus den letzten Jahren. In den späten neunziger Jahren wurden die Routenplaner schnell zu absoluten Rennern auf dem Markt für Computerprogramme. Damals habe ich mich gefragt, wozu die gut seien. Wer eine ordentliche Karte hat, sagte ich mir, braucht doch kein Computerprogramm, um den schnellsten oder sonstwie günstigsten Weg von A nach B für sich rauszusuchen. Kurz drauf kamen die Navigationssysteme und wurden immer billiger. Sie sind heute in den meisten Autos schon serienmäßig drin. Wer braucht so was wirklich, außer vielleicht Fernfahrern, Handelsvertretern oder Taxifahrern?

Möglicherweise ist es vielleicht tatsächlich nicht nur die pure Lust an der technischen Spielerei, was Routenplaner und Navigationssysteme so beliebt macht.

Eine Bekannte in Regenstauf hat mir mal erzählt, daß es bei Urlaubsfahrten oft ein rechter Streß für sie sei, dort hinzufinden, wo sie hinwollten. Und wenn sie glücklich dort seien, kämen sie oft nur noch schwer zurück, weil sie den Weg andersrum nicht wiedererkennen würden. Straßenkarten? Nein, mit Straßenkarten könnten sie beide nichts rechtes anfangen.

Ist das die Erklärung für die kilometerlangen Staus? Daß die Leute ganz einfach drauf angewiesen sind, auf der gut beschilderten und nicht zu verfehlenden Autobahn zu bleiben, weil sie sich in der freien Prärie hoffnungslos verfahren würden? Sie stehen - und dies oftmals tagtäglich - im Stau, weil sie einfach zu dumm sind? Zu dumm, um aus dem Wagenfenster zu schauen?

Und: Die freie Prärie ist angstbesetzt.

Als seinerzeit die als Sklaven gehaltenen Israeliten aus Ägypten auszogen, sehnten sie sich bei der ersten Ernährungskrise nach den ägyptischen Ketten und den Fleischtöpfen des Pharao zurück. Und die in Deutschland lebenden Türken haben mit deutlich größerer Mehrheit für Erdogan gestimmt als die türkischen Türken. "Freilandhühner stimmen für Käfighaltung" hat's geheißen.

Die Schleichwege abseits von der Autobahn mögen ungewiß und manchmal sogar gruselig sein, sie sind in jedem Falle spannender, als im Stau zu stehen. Lieber sich zum Lebkuchenhaus im Wald verirren und dort von der Bösen Hexe verspeist werden als im Stau vom ADAC mit heißem Tee versorgt zu werden, denn - samma sich doch mal ehrlich - dieser "Tee" ist in Wirklichkeit ja doch nur ein irgend gearteter Pflanzenabsud ist, Kamylenté [1] zum Beispiel.

Als ich vor Jahren eine Kurzversion dieses Blogbeitrages eingestellt hatte, gab's Kommentare: "Wir kennen es doch alle, dass es sich auf einer Straße aus unerfindlichen Gründen plötzlich staut." Auf den ersten Blick ist bei vielen Staus in der Tat keine Ursache zu sehen, allerdings sind die Gründe für diese Phantomstaus durchaus ersichtlich. "Und weil man es eben nicht weiß, ob und wann das passieren wird", fährt die Kommentatorin fort, "harrt man eben auf dem vermuteterweise doch schnellsten und direktesten Weg aus und hofft, dass nach der nächsten Biegung auf einmal freie Fahrt herrschen wird."

Achte mal auf das Verkehrsradio, antwortete ich ihr damals, die örtlichen Staus sind (fast) immer an den gleichen Stellen und zur selben Tageszeit. Ich muß kein Hellseher sein, um zu wissen, daß es auf der Autobahn zwischen Passau und Regensburg morgens kein Durchkommen gibt. Höre ich länger Verkehrsfunk (auf der Ausweichstraße etwa), dann kann ich nach wenigen Tagen schon ausrechnen, wann sich der Stau auflösen wird. Die Pendler wissen ganz genau, was sie auf der Autobahn erwartet, trotzdem fährt so gut wie keiner auf Landstraße nördlich der Donau. Dort geht es zwar langsam voran, aber es geht voran. Auf den endgeilen Trick, mit der Regionalbahn nach Regensburg zu fahren, kommt sowieso (fast) keiner.

Wäre ich Personalchef der RUMSBUMS GmbH & Co. KG, dann würde ich Bewerber um eine Stelle danach fragen, wie sie zur Arbeit fahren. Wer "mit dem Auto" ankreuzt, bleibt weiter arbeitslos. Denn er (m/w/d) hat offensichtlich einen Schlag an der Waffel, ist engstirnig und dumm, so einer wählt auch Kurz & Strache [2].

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[1] Nix gegen Kamillentee, damit das klar ist, ich trinke ihn sehr gerne. Aber das Wort ist ein frivoler Frevel. Der Italiener ist da schlauer, er hat drei verschiedene Wörter, die wir allesamt mit "Tee" übersetzen müssen. Té ist Tee im engeren Sinne, also der Aufguß von Blättern der Teepflanze. Infuso ist Kräutertee, also der Absud irgendwelcher Pflanzenteile, Kamille etwa oder Lindenblüten. Tisana schließlich ist ein medizinisch eingesetzter Pflanzenabsud, Hopfentee etwa oder Baldrian.

[2] So war das damals vor 4 Jahren. Erinnert sich noch wer an Karl-Heinz Strache, den Zeitungsverkäufer von Wien, der eigentlich Heinz-Christian heißt?

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