Ein Mann, sagt man, sei ein Mann und eine Frau eine Frau. Dagegen ist wenig zu sagen, außer daß es nicht stimmt.

Ja, gut, ich räume ein, meistens stimmt es doch - aber...

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Es war nur eine kleine, unauffällige Nachricht, die am 4. Februar 1989 in diversen Zeitungen erschien. "Jazzmusiker war eine Frau". Billy Tipton, ein Jazzmusiker, der zusammen mit Jack Teagarden und Russ Carlyle gespielt hatte, mit mehreren Frauen verheiratet war und seinen drei Adoptivsöhnen ein guter Vater gewesen war, soll eine Frau gewesen sein? Selbst die Adoptivsöhne des Saxophonisten und Pianisten erfuhren von der wahren Identität ihres "Vaters" erst vom Leichenbestatter. "Freunde vermuten", so war in der Meldung weiter zu lesen, "daß der Musiker sich als Mann ausgegeben hatte, um seine Erfolgsaussichten in seinem Beruf zu verbessern."

Nach dem Bekanntwerden dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte wurde Billy Tipton postum zum Star. Die New York Times berichtete in großer Aufmachung über ihn, und das "Billy Tipton Memorial Saxophone Quartett", ein Frauenorchester, benannte sich nach ihr. Und man stritt darüber, was sie von Natur aus nun wirklich war; eine Transsexuelle vielleicht oder doch eher eine Lesbe oder ein Hermaphrodit?

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Darüber, Leute, kann man streiten. Wer sich über die uralte Geschichte von Mann und Frau schlau machen will und darüber hinaus bereit ist, sich völlig - und ich meine völlig im Sinn von völlig - verwirren zu lassen, der soll sich den amerikanischen Spielfilm "Victor und Victoria" von 1982 anschauen, Regie Edward Blake, mit Julie Andrews, Robert Preston, James Garner...

Eine junge amerikanische Frau, Sängerin und Tänzerin, sucht im Paris der 30er Jahre verzweifelt nach einem Job, den es nicht gibt. Es gibt zu viel Konkurrenz. Zufällig lernt sie einen Schwulen (ebenfalls aus dem Show-Business) kennen, der ihr rät, sich als Mann auszugeben, der sich als Frau ausgibt (Travestie). In ihrer Verzweiflung probiert sie es, es klappt, sie wird zum Star.

Ein amerikanischer Gangster (James Garner) verliebt sich in die Bühnenfigur "Victoria", sie demaskiert sich auf offener Bühne als "Victor". Was soll ich sagen, der Film demontiert sämtliche Klischees über Männer und Frauen und setzt sie dankenswerterweise nicht wieder zusammen.

Wenn du dich jetzt frägst, woher du die Melodie kennst, dann liegt es wahrscheinlich daran, daß deine Schwester Polyester heißt.

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Vielleicht beschreibt die doppeldeutige Bezeichnung self made man - für einen, der aus eigener Kraft Karriere und sich selbst zum Mann gemacht hat - das Faszinierende und Geheimnisumwitterte dieser Umwandlung am besten. Umschreibt er doch die Auseinandersetzung mit Sexualität und mit Geschlechterdefinitionen. Frauen in Hosen, wie Greta Garbo oder Marlene Dietrich, haben Aufsehen erregt und Fragen herausgefordert. Die frivolen Spiele mit Hosenrollen, die grenzüberschreitenden Maskeraden und ihre schillernden Motive haben in der Kultur-, in der Mode- und Sittengeschichte immer eine Rolle gespielt. Was aber das Doppelleben Billy Tiptons darüber hinaus so besonders macht, ist die Konsequenz, mit der es geführt wurde.

Mehr als dreißig Jahre lang hielt Tipton ihre Verwandlung durch, blieb ihrer Rolle treu und lebte mit all den Risiken, die mit einer möglichen Entdeckung verbunden waren. Das tat sie zum einen, um das Ziel zu verwirklichen, an dem ihr so viel lag: Jazz wollte sie machen, wollte in eine von Männern dominierte Musikszene eindringen. Als ihr klar wurde, wie sie das erreichen konnte, blieb sie auf unaufdringliche Weise hartnäckig und konsequent. Außerdem machte ihr im Lauf der Zeit ihre Verkleidung offensichtlich auch immer mehr Spaß. Sie genoß ihren Identitätswechsel. Es gelang ihr sogar, vier Frauen zu finden, mit denen sie als Billy Tipton jahrelang glücklich verheiratet war. Alle vier hatten sich in diesen adretten und attraktiven Mann verliebt und waren - zunächst zumindest - zu unerfahren, zu naiv, zu unaufgeklärt oder auch zu gehemmt, um Fragen zu stellen.

Es und vor allem die vielen unbeantworteten Fragen, die das Leben der Dorothy Tipton zu etwas so Besonderem machen. Wie kann es sein, daß die Ehefrauen Billys nichts gemerkt haben? Was haben Tiptons Berufskollegen gedacht, geahnt, geargwöhnt? Wie ist das mit den Adoptivsöhnen gegangen, wie hat sich Tipton mit seiner eigenen Familie arrangiert, wer hat da wieviel gewußt?

Die Autorin Diane Wood Middlebrook hat all diese Fragen gestellt und eine Biographie geschrieben, die bei ihrer Veröffentlichung dieses Jahr in des USA großes Aufsehen erregte: Suits Me: The Double Life of Billy Tipton. Die Autorin, die vor allem durch ihren Bestseller über die Dichterin Anne Sexton bekannt geworden ist, lehrt Englisch in Stanford und erweist sich mit ihrer Recherche über das Leben Tiptons erneut als gründliche und sensible Chronistin. Sie hat nicht nur die Geschichte von Dorothy und Billy geschrieben, eine Geschichte über Sexualität und Geschlechterrollen, sondern auch ein Stück Sozialgeschichte der amerikanischen Familie und des amerikanischen Showbusiness.

So formt sich das Bild der Dorothy Lucille Tipton, die 1914 in Oklahoma als Tochter eines Mechanikers und Flugpioniers und einer hingebungsvollen Mutter zur Welt kam Die Ehe der Tiptons allerdings hielt nicht lange. Mag sein, daß die Scheidung der Eltern, die Dorothys Mutter plötzlich aus ihrer Hausfrauenrolle in die einer berufstätigen Frau zwang, damit zu tun hatte, daß schon die junge Dorothy enorm auf Selbständigkeit pochte. Sehr früh jedenfalls wurde in ihrer ohnehin sehr musikalischen Familie ihr bemerkenswertes Talent für Musik erkannt.

Dorothy war gerade mal 19 Jahre alt, als sie in der Jazz-Szene in Kansas City und Oklahoma ihre Karriere begann, wo sie, nach der Scheidung der Eltern, bei Verwandten aufwuchs. Damals, in den dreißiger Jahren, herrschte gerade Depression im Land, Jobs waren rar. Um in die Männerdomäne der Jazz-Musik einzudringen, verkleidete sich Dorothy bei einer Bewerbung als Mann - und wurde genommen. Dorothy hatte also erreicht, was sie wollte. Aber für den Erfolg war ein Preis zu zahlen. Der schien ihr gering zu sein, konnte sie doch Musik machen und somit den Grundstein legen für die Erfolge, die sie haben sollte, als Pianist, Saxophonist - und als Billy, wie sie sich nach dem Vater nannte. Der wollte übrigens später von Billy, dem Mann, nichts mehr wissen. Er kam mit dem Rollenwechsel nie zurecht. Im Gegensatz zu Dorothys Mutter, die Verständnis zeigte für den Geschlechtswechsel der Tochter. Aber auch sie sprach ihre Tochter in Briefen immer nur geschlechtsneutral als darling an.

Wie erzählt man vom Leben einer Frau, die als Mann lebte? Auch Middlebrook thematisiert diese Schwierigkeit in einer Anmerkung am Anfang des Buchs, als sie den Leser fragt, ob man Billy mit "er" oder mit "sie" ansprechen solle. Sie entschließt sich, beide Pronomina zu gebrauchen, benützt "er", wenn es um Billy, den Musiker, geht und um die Beziehungen, die Billy mit denen pflegte, die ihn nur als Mann kannten. "Sie" ist Dorothy in ihrer Kindheit und bei den Leuten, die wußten, daß sie cross dressing machte, also Kleidung und Identität wechselte. Außerdem verwendet die Autorin die weiblichen Pronomina, wenn sie Dorothys Motive und ihre Geschicklichkeit anerkennt, mit der sie die Illusion der Männlichkeit aufrecht erhielt, auf der Jazz-Bühne und hinter der Bühne.

Dorothy Tipton verstand es sehr gut, ihre Maskierung als Mann durchzuziehen. Täglich umwickelte sie ihre Brüste mit breiten Binden. Erklärte auf Fragen, sie habe sich bei einem Autounfall die Rippen gebrochen und brauche den Verband als Stütze. Sie trug einen männlichen Haarschnitt, mit viel Brillantine nach der Mode der Zeit, sie trug doppelreihige Blazer und weite Flanellhosen, modische Herrenschuhe und bei ihren Auftritten den eleganten Smoking. Sie kleidete sich stets mit großer Sorgfalt, bestand auf Reisen mit ihren Bands auf getrennten Schlafzimmer, rasierte sich, benutzte Herrentoiletten. Wann immer möglich natürlich erst dann, wenn keine Männer drin waren. Sie achtete höllisch darauf, daß ihre monatliche Periode nicht bemerkt wurde. Eine Zeitlang trug sie sogar einen kleinen Schnurrbart. Wie sie den wachsen ließ, dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Kosmetisch wäre es möglich gewesen, daß sie einen Lippenflaum oder Damenbart, wie ihn manche Frauen haben, einfärbte und damit sichtbar machte. Es könnte sich bei ihr aber auch um einen Hormondefekt in den Eierstöcken gehandelt haben, der zur erhöhten Produktion von Testosteron und damit zur Ausbildung männlicher Geschlechtsmerkmale führt.

Auch entwickelte sie ein Talent, bei Auftritten laszive Scherze und Anspielungen zu machen und sich damit als galanter Frauenliebhaber und Frauenheld darzustellen. "Denk dran", belehrte Billy einmal einen jungen Zauberer, "du hast immer deinen Auftritt, egal, ob du auf der Bühne stehst oder hinter der Bühne. Du mußt deine Rolle leben, du mußt sie tragen."

Zuhilfe kam Billy auch die damals herrschende verklemmte Sexualmoral. Man sprach über bestimmte Dinge einfach nicht, man nahm sie hin, wunderte sich, aber wollte nicht wissen, wonach der Anstand zu fragen verbot und was einem Angst machen konnte.

Sehr geschickt - und sehr liebevoll - ging Billy, der Mann, mit Frauen um: Er war nur mittelgroß, machte sich fünf Jahre jünger, um sein jungenhaftes Aussehen zu erklären, und er fand Frauen ebenso reizvoll wie sie ihn. Die Geschichte seiner Ehen belegt das. Attraktiv waren seine Frauen alle, lobten das sanfte Temperament ihres Ehemannes und akzeptierten aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Auswirkungen, daß im Bett zwar er sie berühren, küssen, in sie eindringen durfte, sie ihn aber nicht anfassen durften. Sex fand immer im Dunklen statt. Denn niemand sollte, so sagte Billy, seine ebenfalls unfallbedingte Beschädigung des Genitals sehen, mit der er auch seine Unfruchtbarkeit erklärte. Er trug ein Suspensorium und benutzte einen Dildo. Zumindest bei dreien seiner vier Frauen, bei Non Earl, Betty und Maryann, hatte die Trennung nichts mit der Sexualität zu tun, sondern mit dem ruhelosen Reise- und Wanderleben, das Billy als Musiker führte.

Zuletzt verliebte sich Billy in die schöne Striptänzerin Kitty, bekannt als "irische Venus". Die Ehe mit ihr dauerte 18 Jahre, und während dieser Zeit adoptierte das Paar drei Söhne. Billy wollte Kinder, er wollte seßhafter werden und nicht mehr nur arbeiten: Denn wäre er als Musiker zu prominent geworden, hätte er trotz allen Versteckspiels das Risiko einer Entdeckung seiner wahren Identität immer weiter vergrößert.

Als er älter wurde, geriet Billy in Geldnöte, seine übergroße Nachgiebigkeit den Söhnen gegenüber führte zur Trennung von Kitty, er lebte in einem Wohnwagen, Freunde kümmerten sich um ihn, verschafften ihm Jobs. Im Herbst 1988 holt er sich eine hartnäckige Erkältung, sein Raucherhusten verschlimmerte sich. Doch er verweigerte jeden Krankenhausaufenthalt und jede ärztliche Behandlung. Er, Billy, wurde immer schwächer, geriet zunehmend in Atemnot, verlor aber dennoch nicht seine gute Laune. Sie, Dorothy, hielt stur und fest entschlossen bis zuletzt ihr Geheimnis aufrecht.

Mit 74 Jahren verschied Billy in den Armen des ahnungslosen Adoptivsohns William. Erst der Leichenbestatter fand heraus, daß Billy eine Frau war mit normalen weiblichen Geschlechtsmerkmalen Und so, als habe sie die unvermeidliche Entdeckung nach dem Tod erwartet, trug Dorothy keine Binden mehr um den Brustkorb und kein Suspensorium.

Es fällt nicht schwer, sich der poetischen Empfindung der Autorin Diane Wood Middlebrook anzuschließen, die meint, Dorothy, die Sterbende, habe noch einmal jenen anschwellenden Applaus vernommen, der Billy, dem Musiker, zu Lebzeiten so vertraut war und so wichtig. Es ist ein Applaus, der Dorothys Liebe zur Musik gilt, zum Jazz, zum Saxophon, zum Piano und zum Gesang. Ein Applaus, der ihren Mut ehrt und ihre Lust, dieser Liebe wegen ein Leben lang als Mann aufzutreten und ein Doppelleben zu führen. "I did it my way", darauf bestand Frank Sinatra in seinem berühmten Song. Der könnte auch auch Dorothy Lucile Billy Tiptons Leitmotiv gewesen sein: "She did it his way."

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Für die Informationen bedanke ich mich bei Birgit Weidinger, die in der Süddeutschen Zeitung vom 19. 09. 1998 unter dem Titel "Dorothy, die Billy war" einen Artikel über Billy Tipton brachte. Sie wiederum bezog sich auf das Buch "Suits me. The Double Life of Billy Tipton" von Diane Wood Middlebrook.

Man merkt's schon an der Formulierung, daß ich ursprünglich vorgehabt hatte, den Artikel von Birgit Weidinger von damals lediglich als Anregung für einen eigenen Artikel, beziehungsweise Blogbeitrag zu verwenden. Ich hab's versucht und unterm Versuchen habe ich festgestellt, daß ich es nicht, und zwar auch nicht annähernd so hinbringe wie die Frau Weidinger. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich gelernt, wie man Artikel schreibt (in der Zwischenzeit hat das sogar mein Sohn gelernt, und das verdammt gut), aber noch besser als die Weidinger... Ich weiß ja nicht.

Ich habe hier also im wesentlichen ein Plagiat begangen, pardon. Und... küß die Hand, Frau Weidinger.

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