Heute vor 250 Jahren ist Georg Wilhelm Friedrich geboren; an der Stelle folgt - nicht nach dialektischer Logik, aber nach Logik aller Biografen - der Nebensatz: als Sohn von. Details dazu kannst du auf Wikipedia nachlesen. Ich will nur soviel verraten, dass ein Vater, der dem Sohne drei Vornamen schenkt, sich diese auch leisten können muss. Kurz gesagt, Hegel stammt aus einem wohlhabenden Hause.

Zu Ehren dieses typisch deutschen Denkers, der, würde er heute leben, so berühmt wie Peter Sloterdjik, aber bei weitem nicht so populär wie Richard David Precht wäre, schenke ich meinen Lesern das Kapitel „Hegel für Dummies“ aus dem Buch Moral 4.0

Hegel Portrait von Jakob Schlesinger www.wikipedia.org

Hegel für Dummies

Menschen, die sich als Realisten ausgeben, behaupten: ein Ideal ist nie verwirklichbar. Mit dieser Einstellung wollen Realisten darauf hinweisen, dass Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit, Friede und alle anderen Ideen (moralisch, religiös oder politisch betrachtet: Ideale) noch nie in der Menschheitsgeschichte verwirklicht wurden und daher grundsätzlich nicht verwirklicht werden können. Um dieses Missverständnis auszuräumen, muss ich hier eine kurze Lektion in Hegelscher Dialektik einschieben, obwohl ich mit absolutem Wissen sagen kann, dass ich kein Hegel-Experte bin. Ganz im Gegenteil, der Beitrag heißt nicht zufällig „Hegel für Dummies“, denn ich zähle mich selbst zur Zielgruppe. Aber ich bringe es gerade noch auf die Reihe, das Grundkonzept seiner Dialektik zu erklären.

Damit du gleich vor Ehrfurcht erstarrst, vorweg ein Originalzitat: „Der Geist ist in seiner einfachen Wahrheit Bewußtsein und schlägt seine Momente auseinander. Die Handlung trennt ihn in die Substanz und das Bewußtsein derselben und trennt ebensowohl die Substanz als das Bewußtsein. Die Substanz tritt, als allgemeines Wesen und Zweck, sich als der vereinzelten Wirklichkeit gegenüber; die unendliche Mitte ist das Selbstbewußtsein, welches, an sich Einheit seiner und der Substanz, es nun für sich wird, das allgemeine Wesen und seine Wirklichkeit vereint, diese zu jenem erhebt und sittlich handelt – und jenes zu dieser herunterbringt und den Zweck, die nur gedachte Substanz ausführt; es bringt die Einheit seines Selbsts und der Substanz als sein Werk und damit als Wirklichkeit hervor.“ (S. 327 f) [Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie Werkausgabe Band 3, Frankfurt am Main, 1970]

So beginnt das Kapitel „Der wahre Geist. Die Sittlichkeit“ in der „Phänomenologie des Geistes“. Aus diesem Absatz geht nur eines ganz klar hervor - es ist, um mit Hegel zu sprechen, „unmittelbare Gewissheit“: diese Buch wird es in diesem und auch in kommenden Jahrhunderten nicht mehr auf die Bestsellerlisten schaffen. Aber nun zu den Begriffen, die jeder kennt: Dialektik, These-Antithese-Synthese, sowie Position-Negation.

Nicht nur aus der Schule, sondern auch aus dem Leben wissen wir, dass in der Regel ein Schlaumeier (z.B ein Politiker oder ein Wissenschafter) eine These aufstellt (er fordert sie, konstruiert sie, konstituiert sie, oder phantasiert ganz einfach vor sich hin), dann kommt ein anderer Schlaumeier mit einer Antithese, und weil sie nicht ewig wie die Böcke mit ihren Köpfen aufeinander prallen können, bilden sie am Ende eine Synthese. Diese Synthese bewährt sich meist eine Zeit lang, aber weil Menschen halt gerne wie Böcke aufeinander los gehen, wiederholen sie das immer wieder. Manche entwickeln neue Thesen und setzen diese neuen Antithesen aus, andere formulieren lieber ihre Antithesen zu bestehenden Synthesen.

Man kann ruhig sagen, ein Großteil des Fortschritts der vergangenen 200 Jahre beruht auf dieser dialektischen Methode. Insbesondere in Wirtschaft und Technik, da hat Hegel offenbar mehr Erfolg gehabt als in der Politik und Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie.

Nun aber zu den Begriffen Position und Negation. Aus dem riesigen Guglhupf, den uns Hegel serviert, und von dem ich hier nur ein winziges Stückchen abgeschnitten habe (siehe Zitat), möchte ich drei Rosinen raus klauben: Substanz, Handlung und Wirklichkeit. Substanz übersetze ich mit Idee. (Philosophen sprechen gern von „reinen“ Ideen, damit meinen sie, dass sie schon da waren, bevor sich ein Empirist damit die Hände schmutzig gemacht hat.) Ideen sind beispielsweise Gerechtigkeit und Freiheit - ich wähle hier nur jene zwei aus, die in den meisten Moral-Lehren als substanziell für jede Moral genannt werden.

An der Stelle beginnen die Philosophen gerne zu spekulieren und bis heute ist Hegel der Meister aller Spekulanten, die sich ein Leben lang damit beschäftigen, worin nun die Substanz der Substanz bzw. der Kern einer Idee liege. Doch im Gegensatz zu allen anderen spekulativen Philosophen hat Hegel mit seiner Negation eine wirklich geniale Erfindung gemacht. Die Substanz einer Idee liegt demnach nicht in ihr, oder in der „Idee an sich“, oder in einem Absoluten, das sich uns offenbart (wenn es denn will), sondern in der Wirklichkeit. Und in die Wirklichkeit gelangt sie nur durch ihre Ver-wirklich-ung, und das heißt durch unsere Handlungen!

Nochmals für Dummies, also uns alle: Nimm dir die Idee der Gerechtigkeit und pack sie nicht nur aus um sie dann von allen Seiten zu bewundern, sondern pack sie auch ordentlich an, handle nach ihr! Indem du nun deine Idee von Gerechtigkeit ver-wirklich-st, materialisierst du diese Idee, du bringst sie auf den Boden der Realität, du schaffst ihre Wirklichkeit. Und niemand kann dich daran hindern, dieser Idee deine Wirklichkeit zu geben. Das und nichts anderes meint Hegel mit der Formulierung: „Die Substanz tritt sich als der vereinzelten Wirklichkeit gegenüber.

Eine Position ist demnach jede Idee in ihrer ursprünglichen Form, Negation ist die Verwirklichung der Idee. Jede Verwirklichung einer Idee ist damit notwendiger Weise eine Negation, sogar eine doppelte Negation. Die Verwirklichung negiert die „Reinheit“ der Idee, d.h. die Verwirklichung kann keine identische Wiedergabe der Idee an sich sein. Und die Verwirklichung negiert die „Idee als Idee“, d.h. nur in der Materialisation findet die Idee zu ihrer Substanz. Um nicht weiter in die Hegel-Spirale zu geraten, merk dir einfach: Substanz, Handlung und Wirklichkeit. Jede substanzielle Idee wird durch deine Handlung (durch deine Art, diese zu verwirklichen) zur Wirklichkeit (also in gewisser Weise Materie, insofern du mit jeder Handlung Spuren in der Wirklichkeit hinterlässt).

Randbemerkung: es gibt auch nicht-substanzielle und substanzlose Ideen, das sind Ideen, die man gar nicht verwirklichen kann. Diese Ideen kritisiert schon Immanuel Kant als inhaltsleere Spekulationen. Auch Utopien gehören oft in diesen Bereich. Die Alltagssprache kennt dafür auch den Ausdruck „Hirngespinst“.

Position und Negation können nur gemeinsam auftreten, das ist das Wesen der Dialektik. Und das ist die Substanz jeder Idee! Wenn du das verstanden hast, dann verrate ich noch eine Formulierung, die du dir merken musst: die Position ist in der Negation aufgehoben. Um diesen Satz zu verstehen, musst du den Begriff „aufgehoben“ immer in drei Bedeutungen gleichzeitig denken (das ist wichtig: gleichzeitig, nicht der Reihe nach). Aufheben heißt 1. annulieren, so wie Gesetze, die man aufhebt, ihre Gültigkeit verlieren; 2. auf eine höhere Stufe stellen, so wie man ein Buch, das auf den Boden gefallen ist, aufhebt und ins oberste Regalfach stellt; 3. aufbewahren, so wie man schöne Erinnerungen oder Wertgegenstände aufbewahrt.

Nach dieser kleinen Lektion kannst du das einleitende Hegel-Zitat nochmals lesen. Ich garantiere dir, du wirst nicht zur Salzsäule erstarren! Mit dieser kurzen Anleitung kannst du alles von Hegel lesen, es ist immer der gleiche Teig und es sind immer die gleichen Rosinen. Wenn du von Heroin abhängig bist, sag ich dir, probier's mal mit Hegel. Beides – drei Visionen gleichzeitig zu sehen oder einen Begriff gleichzeitig in drei, vier oder fünf Bedeutungen zu denken – beides macht high, aber die Nebenwirkungen von Hegel sind deutlich geringer!

Hier die Quintessenz des Original-Zitates: „Der Geist ... schlägt seine Momente auseinander. Die Handlung trennt ihn von der Substanz … Die Substanz tritt ... sich als der vereinzelten Wirklichkeit gegenüber; … das Selbstbewußtsein [d.h. jeder selbstbewusste Mensch], welches … sittlich handelt … bringt die ... Substanz als sein Werk und damit als Wirklichkeit hervor.“ (S. 327)

Daraus ergibt sich in dialektischer Logik: Freiheit und Gerechtigkeit existieren so, und nur so, wie du sie verwirklichst. All jene, die felsenfest behaupten, Freiheit und Gerechtigkeit würden gar nicht existieren, beweisen damit nur, dass Freiheit und Gerechtigkeit für sie nicht existieren, weil sie unfähig sind, sie zu verwirklichen. Diese bedauernswerten Menschen verharren – mit den Worten Immanuel Kants – in ihrer „selbstverschuldete Unmündigkeit“. Nicht frei und gerecht, aber meist freiwillig und selbstgerecht.

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