Mut zum Risiko, Mut zur Verletzbarkeit, Mut zur Offenheit.

Ganz selten schaffen es Menschen, mich zu faszinieren. Doch der Performance-Künstlerin Marina Abramović ist es gelungen.

Der Name Abramović war mir als Kunstkenner und Liebhaber natürlich ein Begriff, gilt sie doch als "Godmother of Performance Art" - doch mit moderner Kunst konnte ich bis zu ungefähr meinem 14. Lebensjahr nicht wirklich was anfangen, sah ich doch darin eine reine Farce wie im Märchen bei "Des Kaisers neue Kleider". (Marina, so dachte ich damals, ist entweder vollkommen geistesgestört oder bloß eine raffinierte, prätentiöse Geschäftsfrau - oh wie falsch ich doch lag...) Inzwischen hat sich meine Ansicht darüber jedoch sehr verändert, insbesondere was Performance und Aktionismus angeht; den eigenen Körper als Werkzeug für die Kunst einzusetzen, kann geradezu erstaunliche Reaktionen hervorbringen.

Ein Grund dafür ist die HBO-Dokumentation Marina Abramović: The Artist Is Present von Matthew Akers und Jeff Dupre, die ich vor ein paar Jahren gesehen habe und welche ich jedem ans Herz lege - erst wenn man diesen Dokumentarfilm in voller Länge von Anfang bis Ende guckt, wird einem so einiges klar und deutlich. Die Doku, die auch mit deutschen Untertiteln auf Blu-Ray Disc, DVD und als Video On Demand erhältlich ist, hat meine Sichtweise über Kunst, Frau Abramović und vielleicht sogar das Leben selbst radikal verändert.

Hier ein kurzer Ausschnitt:

Abramović setzt sich während der Öffnungszeiten ihrer knapp dreimonatigen Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Arts an einen Tisch ins Atrium. Ihr gegenüber kann jeweils ein Besucher/eine Besucherin der Ausstellung Platz nehmen. Abramović sieht ihn oder sie dann einfach an, schweigend, unbeweglich. Gespräche sind untersagt. Nach 721 Stunden des stillen Sitzens und 1.565 Gegenübern ist die Performance beendet. Das klingt todlangweilig? Ist es aber nicht - im Gegenteil. Die Leute stehen Schlange, um an den Tisch der Künstlerin zu kommen. Abramović geht immer kurz in sich und konzentriert sich dann voll und ganz auf die jeweilige Person, welche ihr gegenüber sitzt - und dann passiert ganz Wunderbares: Die Leute sind tief bewegt, viele sogar zu Tränen gerührt. Sie spüren offenbar eine Verbundenheit, die durch die alleinige Konzentration auf ihre Person und die Aura der Künstlerin entstanden ist.

Handys, Computer und Co. wurden entwickelt um uns mehr Zeit zu geben, doch in Wirklichkeit haben die Leute durch die moderne Technik weniger Zeit dennje, so Abramović. Doch "The Artist Is Present" ist nur ein interessantes Kunstprojekt von vielen.

Eine ihrer mit Abstand extremsten Erfahrungen war diese hier, bitte ansehen:

Marina Abramovic on Rhythm 0 (1974) from Marina Abramovic Institute on Vimeo.

https://vimeo.com/71952791

Neapel, 1974: Die damals noch sehr junge Künstlerin steht in einem Galerieraum neben einem Tisch. Er ist beladen mit Dingen, die aus einem Gemischtwarenladen stammen könnten. Da sind Gebrauchsgegenstände aller Art, Lebens- und Genussmittel, Körperpflege-Mittel, Kleidung, Werkzeuge und Blumen. Und mittendrin liegen ein Revolver und die passende Munition. Alle Dinge werden den Betrachtern zur Wahl angeboten. Sie dürfen sie an der Künstlerin anwenden, an ihren Kleidern, ihren Haaren, an ihrem Körper und ihrem Gesicht. Marina Abramović hat sich für die Dauer von sechs Stunden ihrem Publikum ausgeliefert. Sie will alles erdulden, was man in dieser Zeit mit ihr tun wird. Und damit etwas passieren wird, hat sie den möglichen Tätern vorab die Absolution (Freispruch, Vergebung) erteilt: Sie wird alle Folgen tragen und niemanden für irgendetwas zur Verantwortung ziehen.

Die Folgen waren, wie man im Video sehen kann, unfassbar: Zuerst haben die Museumsgäste noch ihren Körper gestreichelt, ihn mit Blumen dekoriert - doch im Laufe der Zeit wurde man immer ungehemmter und brutaler. Ihre Kleidung wurde aufgerissen, ein Besucher schnitt sie am Hals auf und trank ihr Blut (!!!), ein anderer versuchte tatsächlich den Schalter an der Waffe zu betätigen, während ein weiterer Gast wiederum ihm jene Pistole aus der Hand riss um Schlimmeres zu verhindern usw. - das alles waren stinknormale Galerie-BesucherInnen, wohl gemerkt, Leute wie du und ich - weder vorbestraft noch verhaltensauffällig oder sonst was. Wie Kurator Klaus Biesenbach einst bemerkte, kommt "Rhythm 0" dem Stanford-Experiment gleich - Menschen können, ohne ersichtlichen Grund, unglaublich grausam sein - wenn man sie nur lässt.

Mit ihrer Radikalität und dem kontinuierlichen Überschreiten von Grenzen hat die Aktionskünstlerin bereits viele andere Leute beeindruckt und inspiriert:

Ja genau, "she's limitless" - das verwirrt und macht einigen dummen, engstirnigen Leuten natürlich auch Angst. Immer, wenn ich mir im Internet alte oder neue Interviews von Frau Abramović  ansehe (oder anhöre/lese), fühle ich mich wie ein Baum, der gewässert wird. Die Dame beweist immer wieder, wie humorvoll und geistreich sie sein kann und beeinflusst dadurch auch meine eigene Kunst. Darum ist Lernen so unendlich wichtig - und dank ihr konnte ich bereits sehr viel lernen.

Deshalb ist es mir ein Bedürfnis, dass nun endlich mehr Menschen über diese faszinierende Persönlichkeit erfahren. :) Ich habe diesen Text jetzt bereits mit vielen Hyperlinks versehen, zu guter Letzt jetzt noch eine Liste: 17 Dinge, die Sie noch nicht über Marina Abramović wussten via Complex (für die Englischsprachigen unter euch, die noch mehr erfahren wollen).

Blog-Bild (c) Jeff Vespa/Getty Images

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