Was Krankheit ist, ist in sich ein erstaunlich komplexes Thema. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen einem gebrochenen Bein, einer Depression und einem Schnupfen ist, drastisch vereinfacht, dass wir nicht gesund sind. Aber ab wann sind wir gesund und ab wann sind wir krank?

Eine Beobachtung, die sich mir ganz persönlich aufgedrängt hat, ist, dass Krankheit drastisch mit Akzeptanz des Umfeldes zusammenhängt.

Um hier ein anekdotisches Beispiel zu bringen: die Idee, dass man „wegen so einer Kleinigkeit nicht in den Krankenstand geht“ habe ich in Arbeiterkreisen häufig gehört, bei den Angestellten seltener und bei Beamten praktisch nie. Die Arbeiter gingen mit einem Schnupfen arbeiten, die Angestellten blieben 3 Tage zuhause und der Beamte eine Woche. Ob nötig oder nicht, ist nicht die Frage. Interessant ist, dass die gleiche Krankheit von unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich ernst genommen wird.

Schmerz ist eine relative Sache. Die schlimmsten Schmerzen die man sich vorstellen kann sind die schlimmsten Schmerzen die man erlebt hat. Das gleiche gilt für Dinge wie Stress oder körperliche Anstrengung: die eigenen Limits hängen mit den eigenen Erfahrungen zusammen. Stress empfindet man dann, wenn man sich dem höchsten Stresslevel nähert den man selber jemals durchmachen musste. Das führt dann logischerweise dazu, dass exakt der gleiche Stresslevel für eine Person unerträglich ist, für eine andere Person aber durchaus managebar.

Es gilt dabei einzuwerfen, dass die Anpassungsfähigkeit des Menschen limitiert ist. Es stimmt, dass ein Mensch der am Bau arbeitet und Zementsäcke schleppt vermutlich mehr Kraft und Durchhaltevermögen hat als sein Zwilling der Manager in einem Großkonzern geworden ist, dafür hält zweiterer typischerweise den Stress der durch schwierige Entscheidungen entsteht besser aus. Dinge zu wiederholen und unsere Grenzen zu überschreiten macht stärker, aber nur bis zu einem gewissen Level. Jeder hat einen Breakingpoint den wir nicht überschreiten können.

Training, Gewöhnung und Anpassung sind aber Faktoren. Untrainierte Menschen können weniger als trainierte.

Das alles ist eine lange Einführung zur eigentlichen Frage: sind wir als Gesellschaft eventuell zu tolerant im Bezug auf Krankheiten geworden, akzeptieren wir zu oft, dass Menschen krank sind und haben wir damit praktisch jedem das Gefühl gegeben chronisch krank zu sein?

Das Problem an der Sache ist, dass „krank sein“ sich alle andere als gut anfühlt. Gute Freunde von mir verbringen erstaunlich viel Zeit bei Mediziniern, Dreißigjährige haben Pillenboxen wie meine Urgroßmutter sie hatte (Montagmorgen, Montagabend, Dienstagmorgen, etc) und sie alle sind Randvoll mit bunten Pillen gefüllt.

Das Problem ist, dass wir nicht wirklich wissen wann wir gesund sind. In den Rosenhan-Experimenten (1973) wurde etwa wiederholt nachgewiesen, dass gesunde Menschen die in eine Psychiatrie eingewiesen wurden nicht als solche identifiziert werden können. Jeder hatte irgendwas.

Aus Sicht des Psychologen ist jeder psychisch krank und meine Erfahrung suggeriert, dass es sich mit anderen Experten nicht anders verhält.

Wenn ich einem Arzt eine Belohnung in Aussicht stelle wenn er etwas Krankes in mir findet, wird er etwas finden.

Der Begriff „gesund“ ist im Grunde eine spezifische Version des Wortes „ideal“ und keiner von uns ist ideal. Kein von uns ist also wirklich gesund. Wir alle sind krank. Mal mehr, mal weniger aber ganz gesund sind wir eben nie.

Die für uns persönlich wichtige Frage dürfte also sein wann wir uns gesund fühlen und mein persönliches Gefühl ist, dass hier das Umfeld eine kritische Rolle spielt. Jemand dessen Umfeld auf jedes Wehwehchen empfindlich und mit Mitgefühl reagiert erzeugt ein Umfeld in dem man sich rascher krank fühlt und in dem mehr Menschen krank sind.

So ein Umfeld ist, und das ist die Ironie an der Sache, emotional viel wärmer aber gleichzeitig ein Umfeld in dem man sich sehr einfach krank fühlt und damit eines das krank macht.

Eine Gesellschaft die jedes Unwohlsein, jede Abweichung vom Idealzustand als ein Problem betrachtet das gemeinschaftlich gelöst werden muss ist eine Gesellschaft in der es unheimlich schwierig ist jemals zufrieden zu sein oder sich auch nur gesund zu fühlen.

Eine Gesellschaft in der jedes Wehwehchen, jede wahrgenommene Beleidigung, jede Unbequemlichkeit zu einem Problem erhoben wird auf das jeder sensibilisiert werden muss und das eliminiert gehört ist eine stets kranke, stets gestresste und stets unzufriedene Gesellschaft.

Die Implikation ist eben ironisch und zum Teil durchaus verstörend.

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