Layla AbdelRahim definiert Primitivismus wie folgt „Primitivismus bezeichnet eine politische und philosophische Strömung, die eine gesellschaftliche Rückkehr zu vorindustriellen und oft sogar vorlandwirtschaftlichen Lebens- und Produktionsverhältnissen anstrebt.“.

Die Wahrheit ist aber komplizierter.

Unsere Welt ist praktisch überall von Menschen besiedelt, aber diese Menschengruppen sind nicht alle am gleichen technologischen Stand. Das hat unterschiedliche Gründe, wir werden aber nur auf einen einzigen Grund eingehen: eine bewusste Entscheidung gegen technologischen Fortschritt.

Solche Gruppen stellen für die Gesellschaft, in der sie eingebettet sind, oftmals ein Problem dar. Industrielle Gesellschaften definieren Armut anders als eine Agrargesellschaft. Wenn sich etwa plötzlich eine Kommune in Niederösterreich zusammentut und beschließt auf steinzeitlichem Niveau zu leben ist diese Gesellschaft, auch wenn ihr nach ihrer eigenen Meinung nichts fehlt, so bitter arm, dass der Staat Österreich Alarm schlägt. Ein Kind das in solche Verhältnisse geboren wird, würde geradezu zwangsläufig irgendein Amt auf den Plan rufen.

Sich also bewusst gegen ein technologisches Leben zu entscheiden ist innerhalb des Frameworks eines Sozialstaates nicht wirklich möglich. Für Gruppen wie die Mosuo in China ist das ein Problem, insbesondere aufgrund ihrer matriarchen Gesellschaftsstruktur, die mit dem chinesischen System völlig inkompatibel ist.

Die Amish in den vereinigten Staaten hingegen können so leben wie sie leben wollen, weil der Staat dort Menschen weniger geneigt ist seine Bürger „zu ihrem Glück zu zwingen auch wenn sie das nicht wollen“.

Das Problem das eine solche Gruppe hingegen hat ist, dass sie den technologisch höher entwickelten rund um sich immer ausgeliefert ist. Ein hypothetischer Staat der sich dazu entschließt auf dem technologischen Stand von 1434 zu existieren wird vermutlich binnen weniger Jahre von einem seiner Nachbarn „befreit“.

Damit der Amish also in seiner lustigen Bubble in Frieden existieren kann muss Uncle Sam ihn beschützen.

Primitivismus ist also eine hochkomplexe Angelegenheit die in sehr naher Zukunft wohl an Bedeutung gewinnen wird.

Die aktuelle Entwicklung im Bezug auf die AI legt nahe, dass wir uns in einem Prozess rasanter Entwicklung befinden.

Kaufte man vor 100 Jahren ein Telefon war es erst nach 20 Jahren veraltet.

Kauft man sich heute eines ist es nach 2 Jahren veraltet.

In einer absehbaren Zukunft wird das Telefon der Zukunft nach 20 Minuten veraltet sein.

Menschen sind anpassungsfähig aber es scheint so als können wir jetzt schon kaum Schritt halten. Das Internet etwa ist seit 20 Jahren fixer Bestandteil der Gesellschaft und wir grübeln noch immer wie wir damit „Richtig umgehen sollen“. Nimmt die technologische Geschwindigkeit weiter zu ist es absehbar, dass wir gar nicht mehr mithalten werden können.

In dem Zusammenhang gilt es zu verstehen wie relativ Zeit ist. Eine AI die doppelt so intelligent ist wie wir kann entweder <doppelt so viel in der gleichen Zeit lösen> oder aber <das Gleiche wie wir in der Hälfte der Zeit>.

Diese Lösung suggeriert dass für einen Teil der Ai's die Zeit scheinbar langsamer vergeht als für uns. Für eine AI die hundert mal so klug ist wie wir bedeutet dass das wir uns praktisch nicht mehr bewegen.

Hier kommt der Primitivismus ins Spiel.

Primitivismus bedeutet die Zeit künstlich einzufrieren. Ein Dorf der Amish entscheidet sich etwa, dass für sie immer 1724 sein soll. Jetzt, nächstes Jahr und in 50 Jahren auch noch. Das ist einfach.

Eine komplexere Alternative, die im Moment vorwiegend in der Theorie besteht, ist die Zeit langsamer vergehen zu lassen.

Man stelle sich vor dass im Jahr 2000 Menschen beschlossen hätten dass ihnen die Entwicklung zu schnell gehen würde, genau doppelt so schnell, um genau zu sein.

So eine Gesellschaft würde also erst im Jahr 2004 die Technologie einführen die die restliche Gesellschaft schon 2002 hatte und erst 2020 die Technologie von 2010.

Das Problem ist aber, dass Technologie sich nicht linear entwickelt. Computer etwa verdoppeln ihre Leistungsfähigkeit alle 18 Monate, wenn man also die Geschwindigkeit des Jahres 2000 beibehalten bedeutet das, dass man irgendwann defakto dennoch in der Zeit stehen bleibt.

Irgendwann kann man nur noch jährlich Dinge neu einführen die in der realen Welt minütlich herauskommen ohne die Menschen zu überfordern.

Für eine künstliche Intelligenz werden wir Menschen dann wirken wie für uns jetzt Gletscher. Wir wissen, dass sie sich bewegen, wir verstehen was sie tun aber wenn wir sie ansehen wirken sie recht statisch und langweilig.

Es ist einfach den Gedankengang als Science Fiction abzutun, das Problem ist aber heute recht eindeutig nicht mehr theoretisch sondern wird langsam aber sicher zu einem rein mathematischen Problem.

Wenn die technologische Entwicklung in ihrer Geschwindigkeit zunimmt, vorwiegend weil unsere Werkzeuge so gut werden, dass wir jedes Jahr effizienter werden oder die Werkzeuge die Arbeit ganz ohne uns erledigen, wird der Punkt kommen an dem wir nicht mehr mithalten können. Selbst jene die wollen, werden es schlicht nicht können.

Der Schlüssel zu einem erfolgreichen primitivistischen Leben ist aber eben immer die schützende Hand die über der Bubble schwebt und alle Gefahren abwehrt und der Gruppe gestattet auf ihre Weise zu leben. Vermutlich werden wir neue Begriffe brauchen um eine künstlich verlangsamte Entwicklung zu beschreiben und es ist völlig unabsehbar wie wir uns an so eine neue Welt anpassen werden oder ob wir es überhaupt können und der korrekte Zeitpunkt anzufangen über diese Fragen nachzudenken ist vermutlich vor 30 Jahren.

Und egal wie akademisch diese Frage jetzt klingt, ich denke dass in spätestens 10 Jahren Fragen dieser Art den politischen Diskurs bestimmen werden, sofern es dann noch einen gibt.

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Matt Elger

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