„Alle wissen Bescheid, schweigen und machen mit“

Nein. Es geht nicht um KZs, sondern um Altenheime, betrifft also jeden von uns. Vor allem Nicht-Juden. Wegen unhaltbaren Zuständen bekommt ein Altenheim in der Nordeifel einen neuen Betreiber. Die Bewohner der Kleinstadt sind empört, als sie erfahren, dass schon über einen längeren Zeitraum katastrophale Pflegemängel im Altenheim herrschen. Täglich wird gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen. Ein anerkannter Pflege-Experte geht in einem Vortrag vor allem mit Teilen des Pflegepersonals hart ins Gericht.

Die schlimmen Informationen erhält der Experte zu zwei Dritteln von den Pflegekräften. In keinem anderen Bereich des öffentlichen Lebens gibt es einen lascheren Umgang mit gesetzlichen Bestimmungen. Ein Restaurant wird schneller wegen Verstoßes gegen Hygienevorschriften geschlossen als ein Pflegeheim.

Die Schließung eines Pflegeheimes ist ein außergewöhnlicher Vorgang. Die härteste Strafe, die ein Pflegeheim ansonsten erfährt, ist ein Aufnahmestopp oder Bußgelder, die den Heimträger nicht belasten. Die meisten Heime sind viel zu groß, als dass man sie schließen kann. Die zuständigen Behörden wissen nicht wohin mit den Bewohnern. Es gibt zu wenige Plätze und die anderen Häuser werden auch nicht besser geführt. Gute Pflegeheime haben lange Wartelisten. Hätte das Heim in der Nordeifel nicht 58, sondern 100 Bewohner, wäre es vermutlich nicht geschlossen worden, unabhängig davon, wie schwerwiegend die Pflegemängel auch sein mögen. Es gibt einen langen Vorlauf an Beschwerden und Interventionsversuchen, bis die Heimaufsicht zu diesem letzten Mittel greift. Ein Wechsel des Heimträgers kann etwas bewegen, wenn es gelingt, engagierte Führungskräfte und das richtige Fachpersonal einzustellen.

Pflegemängel sind keine Einzelfälle. Sehr viele Heime gehören nach Recht und Gesetzt geschlossen. Es gibt zu wenig fachlich qualifiziertes Personal. Überforderung und Überlastung sind die Konsequenz. In vielen Pflegeheimen spricht man von menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Auch die Führungskräfte sind für ihre verantwortungsvolle Aufgabe nicht geeignet. Ein Pflegeheim ohne Mängel gibt es nicht. Wichtiger ist, wie das Heim auf Kritik und Beschwerden reagiert.

Gewöhnlich wird verharmlosend von „bedauerlichen Pflegemängeln“ oder „Einzelfällen“ gesprochen. Seit Jahren erhält der Pflege-Experte täglich Hilferufe von verzweifelten Pflegekräften, die von einer lebensgefährlichen Pflege berichten. Es geht um Situationen, die den Gesundheitszustand des Patienten derart beeinträchtigen, dass sie zum Tod führen. Das ist eine Sache für den Staatsanwalt, vor der sich die Justiz drückt. Pflegeheime sollen Schutzräume und keine rechtsfreie Räume sein, was sie aber weitgehend sind.

Das Frühwarnsystem funktioniert nicht. Über gravierende Missstände in Pflegeheimen wissen alle Bescheid. Alle schweigen und alle machen mit. Für solche Missstände sind alle verantwortlich, die davon wissen und nichts unternehmen: Pflegekräfte, Ärzte, Angehörige, Ehrenamtliche, Rettungssanitäter, Notärzte, umliegende Krankenhäuser, Behörden. Auch die Leitungen der umliegenden Pflegeheime kennen die Zustände über einen sehr langen Zeitraum.

Die Menschen schauen weg aus einer Mischung von Ohnmacht und Verdrängung. In sehr vielen Heimen gibt es ein Klima der Angst und eine Allianz des Schweigens. Die Pflegekräfte wollen anonym bleiben, weil sie Konsequenzen fürchten. Die Angehörigen und die Heimbewohner haben Angst, sich zu beschweren. Würden sich alle Pflegekräfte untereinander und mit den Angehörigen und den Patienten solidarisieren, dann wären sie mächtiger als alle anderen Kräfte im Pflegeheim. Der Staat versagt als Aufsichtsbehörde. Doch schlimmer ist, dass die Pflegekräfte versagen.

Viele Pflegekräfte sehen sich als Opfer des Systems. Sie sind jedoch Täter. Wer schweigt, stimmt zu. Das schwächste Glied sind nicht die Pflegekräfte, sondern die alten, hilflosen Menschen. Jetzt kommt die scheinheilige Empörung: Wie kann denn so etwas möglich sein? Weil die Menschen weggeschauten und die pflegebedürftigen Menschen im Stich lassen!

Es gibt ökonomische Rahmenbedingungen, die Wegschauen und Ignorieren begünstigen, wie fehlende Pflegekräfte und immer weniger Geld für mehr Arbeit. Wenn die Arbeitsbedingungen in einem Heim nicht zumutbar sind, müssen die Pflegekräfte reagieren. Sie müssen sich mit den Schutzbefohlenen solidarisieren, ehrlich die Missstände aufzeigen, Überlastungsanzeigen schreiben und notfalls kündigen. Es gibt keinen krisensichereren Arbeitsplatz in Deutschland als die Pflege. Jede Pflegekraft kann sich jederzeit eine neue Stelle aussuchen. Wenn Pflegekräfte unter menschenverachtenden Bedingungen arbeiten, dann sind sie selber schuld daran. Außerdem sollen sie ehrlicherweise nur noch genau die Pflege dokumentieren, die sie auch tatsächlich leisten. Es ist absurd, ständig über Personalmangel zu jammern, dann aber die Vollversorgung zu dokumentieren.

Manche Pflegekräfte argumentieren, dass sie, wenn sie kündigen, die Patienten im Stich lassen. Doch genau das tun sie unter den katastrophalen Arbeitsbedingungen bereits jetzt, wenn wie im Heim in der Nordeifel eine einzige examinierte Pflegekraft für 58 Bewohner zuständig ist.

Wie sieht es denn mit dem Faktor Geld aus? Fehlt es in der Pflege an Geld?

Es gibt genügend vorbildliche Pflegeheime, die unter den gleichen ökonomischen Bedingungen wie die menschenverachtenden Pflegeheime arbeiten. Es ist genug Geld im System, was man daran erkennt, dass die Pflegebranche boomt. Es gibt gute Heime, die genauso viel Geld für die Pflege bekommen, folglich unter ähnlichen Rahmenbedingungen arbeiten wie die schlechten Häuser.

Pflegekräfte sind die am schlechtesten organisierte Berufsgruppe. Noch nicht einmal 20% sind gewerkschaftlich organisiert. Die Pflegekräfte müssen einen Paradigmenwechsel vollziehen und ihre Macht zeigen, um das menschenverachtende System zu verbessern.

Wenn man das Gefühl hat, dass der Angehörige nicht richtig gepflegt wird, dann soll man sich bewusst machen, dass man selber für den Angehörigen verantwortlich ist. Die Verantwortung kann man nicht delegieren. Das heißt, man muss sich vor Ort kümmern, regelmäßig, auch unangemeldet ins Pflegeheim kommen. Wenn sich die Lebenssituation nicht verbessert, muss man die Mutter oder den Vater aus dem Heim zu sich nehmen.

Ein gutes Heim erkennt man am Bauchgefühl. Die Wünsche der Eltern sind bescheiden. Sie wollen in Ruhe essen und trinken, zur Toilette gehen, in den Arm genommen werden, an die frische Luft und höflich und respektvoll behandelt werden.

Angehöriger haben nur einen kleinen Einblick. Ein Monitoring der Pflegequalität kann sich der Angehörige nicht leisten. Da müssten staatliche Stellen ran, doch diese sind überfordert. Das jetzt geschlossene Haus in der Nordeifel hat vom Medizinischen Dienst eine gute Pflegenote von 2,0 erhalten. Zertifizierung und Benotung funktionieren nicht. Die Konsequenz von schlechter Pflege muss sein, dass sich Pflegekräfte und Angehörigen solidarisieren! Dann wären schlechte Heime schon längst dicht. Da braucht man keine Heimaufsicht! Das regelt die Mund-zu-Mund-Propaganda.

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