Ich bin ja noch in einem Jahrtausend erwachsen geworden, in dem es üblich war, dass sich Menschen jenseits, von sagen wir, 23 nicht ungefragt duzten. Vor allem im Geschäftsleben gebot es der Respekt sich eines distanzierenden Sies zu bedienen. Das hatte durchaus den Vorteil in unangenehmen Situationen auf Abstand zu bleiben. Ich kann mich nicht daran erinnern in meiner langen Selbständigkeit meine Kunden ungefragt geduzt zu haben. Genauso umgekehrt. Geduzt hat man sich allenfalls, wen man einen erfolgreichen Geschäftsabschluss mit unbotmäßig viel Alkohol gefeiert hat. Meist war man dann beim nächsten Zusammentreffen wieder beim altbewährten Sie.
In Zeiten des Internets hat sich dies grundlegend geändert. Man duzt sich, ohne sich jemals persönlich begegnet zu sein. Das nimmt Distanz und lässt Hemmungen fallen. In Foren, auf Facebook oder sonstigen Social Media Kanälen kann man sich dem Du sehr schwer entziehen, daran habe ich mich gewöhnt. Und ein Sie verwende ich, wenn ich mir sehr deutlich jemanden fern halten möchte.
Ein wenig schwieriger wird es für mich im Mail-Verkehr. Als Bloggerin erhalte ich täglich Koopertionsanfragen, manchmal sogar seriöse. Die lauten dann meistens folgendermaßen:
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Hi, Claudia, ich bin gerade auf deinen super schönen, wunderbaren, genialen, überdrüber Blog gestoßen. Mein Name ist Christin-Jeanette. Ich bin die PR-Tante der Firma Hupidu und möchte dir eine Kooperation vorschlagen. Wir verkaufen als Startup eine japanische Schneckenschleimmaske. Ich lass dir hier mal unseren Link da, den kannst du dann auf deinem Blog in einen schönen Artikel einbauen. Nett von dir! Du, danke, deine allerliebste Christin-Jeanette von Hupidu
Ah, ja! Davon abgesehen, dass Christin-Jeanette, oder wie die Mädels auch immer heißen, meistens meinen Blog nicht wirklich lesen, oder wenigstens überfliegen. Nein, sie duzen mich alle. Wenn sie auf meiner About-Seite Infos über mich und mein Blogthema einholen würden, dann würden die ganzen Christin-Jeanettes lesen, dass ich über 36 bin und immerhin schon Omi. Und somit könnte man daraus schließen, dass ich aus einem Jahrtausend stamme, in dem man sich nicht ungefragt geduzt hat. Die Christin-Jeanettes und ihre Hupidu-Firmen wollen ja immerhin mit mir ein Geschäft abschließen, auch wenn es ein windiges ist. Wäre es da nicht angebracht ein maßvolles Sie in einem Anschreiben zu verwenden? Immerhin war ich mit Christin-Jeanette ja noch nie maßlos Alkohol konsumieren.
Oder, so wie heute an der Kassa eines schicken Innenstadt-Premium-Lebensmittelmarktes. Zugegeben, ich war ungeschminkt und hatte mein frisch kastanienbraun gefärbtes Haar unter einer Haube versteckt, vielleicht ließ mich das jünger als 36 plus 16 erscheinen. Oder vielleicht wirkte ich auch nicht genug Respekt einflößend. Jedenfalls entließ mich der junge Mann, geschätzte 19 und somit jünger als mein Jüngster mit den lockeren Worten: „Du, serwas!“
War das ein Kompliment oder doch nur schlechte Erziehung?