Werden China und Russland wegen Vetorecht im UN-Sicherheitsrat übermäßig kritisiert ?

Scheinbar wesentlich anläßlich des Ukrainekrieges ist nun eine Debatte wiederaufgeflammt, die man schon viel früher und viel breiter hätte führen können: nämlich die um die ständigen Sitze im UNO-Sicherheitsrat mit Vetorecht, also USA, GB, Frankreich, Russland und China als den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. Diese Debatte in dem Moment vom Zaum zu brechen, wo es taktisch für den Westen am meisten Sinn macht, kann man auch als Indiz einer westlichen bzw. US-amerikanischen Vorherrschaft in den Weltmedien betrachten.

Im Prinzip ist es in der Tat ein Widerspruch, dass die UNO-Charta einerseits von der "Gleichheit aller Nationen" spricht, und andererseits 5 dieser Nationen ein Privileg, ein Vetorecht zuspricht: nämlich wie gesagt USA, GB, F, Russland und China. Wobei eigentlich gab es bei 3 dieser 5 Übertragungsmechanismen, das britische Empire zerfiel und GB erhielt in der Nachfolge den Sitz (und kein Britenkoloniestaat wie z.B. Indien oder Ägypten einen Teil-Sitz), das französische Kolonialreich zerfiel und in der Folge erhielt Frankreich den Sitz (und keine ex-F-Kolonie einen Teil-Sitz), und die Sowjetunion zerfiel und Russland erhielt in der Nachfolge den Sitz (und nicht Ukraine oder Kasachstan einen Teil-Sitz).

Diese Struktur hat sehr wesentlich historische Hintergründe, nämlich den Kollaps des Völkerbunds in Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg. Der Völkerbund war sehr wesentlich britisch-französisch dominiert und kannte kein Vetorecht, und eben wegen der britisch-französischen Dominanz schuf er zahlreiche Aussenseiter: USA, Sowjetunion, Deutschland, Italien, Japan, etc.

Und die Allianz des Zweiten Weltkriegs war eine Allianz zwischen Demokratien (oder eher-Demokratien) wie USA und Großbritannien und Diktaturen (wie z.B. Sowjetunion).

Es gibt in der UNO-Charta kein Verbot von Diktaturen und keine Demokratiepflicht.

Die derzeitige Debatte rund um eine Reform des UNO-Sicherheitsrats scheint sehr geprägt von Ukrainekrieg und von der Art und Weise, wie China mit der islamischen Minderheit in Sinkiang umgeht.

Auch der Vorschlag, das Vetorecht auszusetzen in Fällen, wo es um Völkermord geht, scheint sehr wesentlich abzuzielen auf China.

Auf der anderen Seite ist China ein Land mit 1.6 Milliarden Einwohnern, das aber kaum einen Einfluss auf den globalen Diskurs hat und das auch in der UNO-Vollversammlung so gesehen krass unterrepräsentiert ist: nur ein Sitz von 200 (also 0.5%) bei 20% der Weltbevölkerung. Diese 20% der Weltbevölkerung würden eigentlich rein proportional gesehen 40 Sitzen in der UNO-Vollversammlung entsprechen, und nicht nur dem einen, den China hat. Da ein Sitz in der Vollversammlung proportional gesehen ca. 40 Millionen Menschen entspricht, müssten sich bei Proportionalität z.B. Österreich, Ungarn, Schweiz, Liechtenstein und Tschechien einen Sitz teilen im Rotationsprinzip oder im gewichteten Rotationsprinzip oder so. Ähnlicherweise bei anderen Staaten, ein Zustand, gegen den die kleinen Staaten wohl protestieren würden.

Die Rivalität der Systeme (Demokratisch, bzw. Schein-Demokratisch gegen Autoritär), also Nordamerika und EU einerseits, Russland und China andererseits, mit einem großen Teil der südlichen Welt abseitsstehend, ist gewissermaßen ein neues Phänomen, das so in der Geschichte nicht vorgekommen ist: weder hatten die USA in den 1950er Jahren die Möglichkeit, die sowjetische Regierung zu stürzen, noch hatte die sowjetische Regierung in den 1950er Jahren die Möglichkeit, die US-Regierung zu stürzen.

Durch die Globalisierung hat sich nun die Geschäftsgrundlage der UNO, der Welt und der UNO-Charta völlig geändert, womit sich die Frage stellt, ob man die UNO-Charta für hinfällig, für clausula-rebus-sic-stantibus-obsolet erklären sollte.

Wie schon im Buch "The Grand Chessboard - American Primacy and Its Geostrategic Imperatives" von US-Demokraten-Sicherheitsberater Brzezinski beschrieben, ist die Ukraine wegen der sprachlichen und geographischen Nähe zu Russland und wegen der z.B. familiären Verflechtungen derjenige Staat, mittels dem man russische bzw. autoritär-russische Regierungen stürzen kann, ähnlich wie der Staat Taiwan unter Umständen der Staat sein kann, mittels dessen man chinesische bzw. autoritär-chinesische Regierungen stürzen.

Brzezinski´s Formulierung "American Primacy" kann man auch interpretieren als "Primacy of US-Investors", also als Vorherrschaft von USA und US-Investoren.

Im Falle von Ukraine kommt hinzu, dass Stalins Holodomor in der Ukraine eine schwere Belastung für das Zusammenleben von (West-)Ukrainern und Russisch-stämmigen Ukrainern ist und war. Man kann Putin nicht verwerfen, dass er Stalin sei und man kann Putin nicht vorwerfen, dass er für den Holodomor in der Ukraine in den 1930er Jahren verantwortlich sei. Dennoch können westliche Medien und westliche Gedenkorganisationen wie das Nobelpreis-erhaltende Memorial den Eindruck erwecken, dass Putin so eine Art zweiter Stalin sein könnte, der in Bälde einen zweiten Holodomor machen würde oder könnte. Diese belastende Vergangenheit ist politisch sehr explosiv und war es auch, und auch ihr Hochspielen kann es sein. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Hochspielen des Holodomor durch ukrainische (Westukrainische) Politiker nach 1994 das Budapester Memorandum clausula-rebus-sic-stantibus-obsolet macht. Allerdings zeigt die leichte Zerstörbarkeit des putin-russischen Herrschaftssystems durch ukrainische Medien, ukrainische oder westliche Gedenkorganisationen, etc. auch die Schwäche des putinistischen Herrschaftssystems.

Nun ist die Art und Weise, wie die Volksrepublik China die islamische Minderheit in Sinkiang behandelt, in der Tat äußerst problematisch, aber andererseits ist auch die derzeit vorherrschende Interpretation des Islam problematisch, obwohl Koran und oftmals auch Hadithen eine viel liberalere Interpretation ermöglichen würden.

In der UNO ebenfalls enthalten ist das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung.

Und man kann Putins Ukrainekrieg auch sehen als kollektive Verteidigung von Putin-Russland gegen einen westlichen Versuch, per Ukraine Putins Herrschaftssystem in Russland zu zerstören, und Russland umzuwandeln in eine stark mit dem Westen verflochtene Demokratie.

(Das ist eine sehr umstrittene Minderheitenposition, aber trotzdem sollte man umstrittene Minderheitenpositionen doch erwähnen dürfen, auch wenn der Mainstream der Journalisten und Politiker einen starken Trend zum rudelhaften Verhalten hat, so ähnlich wie das CDU-Aussenpolitiker Polenz in einem Telepolis-Interview sagte.)

CC / Dati Bendo https://de.wikipedia.org/wiki/Xi_Jinping#/media/Datei:Xi_Jinping_with_Macron_and_Von_der_Leyen_2023.jpg

Chinesischer Präsident Xi Jinping: völkerrechtswidriger Diktator oder legitimer Präsident ? Mit zuviel Macht im UNO-Sicherheitsrat ? Mit zuwenig Macht in der UNO-Vollversammlung ? Im Angriffsmodus gegen Taiwan oder im Verteidigungsmodus gegen die systemgefährdenden Einflüsse, die von taiwanesischen Fernseh- oder Radio-Sendern auf die VR China einwirken ? Böser Diktator oder wesentliches Element der Gegenkraft gegen die US-Vorherrschaft ?

Angemessen Vorgehender gegen eine radikale Islam-Interpretation in Sinkiang ? Oder unangemessen Vorgehender gegen einen Islam, den man auch anders, liberaler interpretieren könnte, was ein Teil der Muslime auch tut ?

In einem erweiterten Kontext stellt sich auch die Frage, ob das angebliche Gewaltverbot in der UNO-Charta auch ein Gewaltprovokationsverbot beinhält oder nicht. Demokratien bzw. die Herrscher in Demokratien "bevorzugen" Gewaltprovokation und Kriegsprovokation, hingegen Diktaturen "bevorzugen" es oft, sich zu Kriegen und Gewalt provozieren zu lassen. Da westliche Wahlkämpfe oft extrem teuer sind, können westliche Investoren westliche Politiker in ihre Abhängigkeit bringen und dazu bringen, speziell in der Aussenpolitik auf eine Art und Weise zu handeln, die vermutlich die Ablehnung großer Teile des Volkes erzeugen würde, wenn sie bekannt würde.

Im Geneva-Statement on Ukraine vom 17. April 2014 (also kurz nach der sogenannten Krim-Annexion) verpflichteten sich alle Seiten, auf Provokationen zu verzichten, im Prinzip ein wichtiger Schritt, auch wenn die Grenzziehung zwischen Provokation und Nicht-Provokation schwierig ist und ziemliches Neuland.

Bei der Frage einer etwaigen Provokation ist aber auch immer die Frage der Verhältnismäßigkeit einzubeziehen: eine geringfügige "Provokation" zur Gewalt kann durchaus ein u.U. positiver Aspekt sein, insofern, als er die leichte Provozierbarkeit des Gegenüber beweist, bzw. die Tatsache, dass das Gegenüber dazu neigt, Kleinigkeiten zu Provokationen aufzublasen und sie als solche darzustellen.

Die Ungleichbehandlung von Krim-Annexion durch Putin-Russland (mit Sanktionen als Folge) und Tibet-Annexion durch VR China (ohne Sanktionen als Folge) wirft auch ein seltsames Licht auf den Westen und seine angebliche Rechtsstaatlichkeit mit dem behaupteten Prinzip "Gleiches Recht für Alle". SO gesehen kann man den Eindruck haben, es ginge nie um die Annexion als solche , sondern immer nur um den Herrscher. Gegen Putin-Russland wurden anläßlich der Krim-Annexion Sanktionen verhängt, weil Putin dafür verantwortlich war, hingegen gegen Xi-China wurden keine Sanktionen anläßlich der Tibet-Annexion verhängt, weil Xi Jinping nicht für die Tibet-Annexion verantwortlich war, weil die Tibet-Annexion stattfand, lange bevor Xi Jinping Präsident war oder auch nur eine bedeutende Position innehatte.

Fragen über Fragen, kulminierend in einer neuen Form der Komplexität, wie sie die Globalisierung eben geschaffen hat ......

Ich persönlich habe diese UNO-Reformfrage schon vor dem Ukrainekrieg gestellt, vor 5 Jahren:

https://www.fischundfleisch.com/dieter-knoflach/newo-statt-uno-warum-die-welt-eine-neue-globale-organisation-braucht-53942

Und ich finde es irgendwie seltsam, diese jetzt anläßlich des Ukrainekrieges wieder hochzukochen, wo man die Frage auch früher hätte behandeln können.

Allerdings ist es eine seltsame Koinzidenz, dass man die Abkürzung NEWO, die ich damals für "Neue Weltorganisation" verwenden konnte, auch als "NEue Weltun-Ordnung" verstehen kann.

Gerade in Anbetracht der drei Zerfallsprozesse (britisches Kolonialreich, französisches Kolonialreich, Sowjetunion) stellt sich die Frage, ob man diese drei Sitze und Vetorechte neuordnen solle, in dem Sinne, dass z.B. Empire-Sitz und Veto aufgeteilt werden, dass das Ex-Briten-Empire-Veto nur dann gilt, wenn zum Beispiel sowohl GB als auch Indien als auch Ägypten dafür sind, das Veto einzusetzen, dass das Französisch-Reich-Veto nur dann gilt, wenn Frankreich, Kambodscha und Algerien gleichzeitig dafür sind, das Veto einzusetzen, wenn Russland, Ukraine und Kasachstan gleichzeitig dafür sind , das Ex-Sowjet-Veto einzusetzen, wenn VR China und Taiwan gleichzeitig dafür sind, das gemeinsame chinesische Veto einzusetzen.

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