Gestern Abend saß ich wie so viele noch lange vor meinem Twitter-Stream. Trotz der schrecklichen Nachrichten aus München sind mir dabei viele positive Dinge aufgefallen, die ich heute unbedingt, so frisch das Ganze ist, festhalten möchte. Ich werde nicht über etwas spekulieren, das noch niemand weiß, oder versuchen, Ereignisse zu beurteilen, die ich nicht beurteilen kann. Vielmehr möchte ich einen kurzen Einblick in die Verwendung von twitter während eines solchen Ereignisses geben. Und zeigen, wie viel Gutes gestern in all der Angst dort passiert ist. Ein wenig Erläuterung vorweg. Alle Nutzer des Netzwerks können den ersten Abschnitt getrost überspringen.

Twitter im Katastrophenfall

Viele Nicht-Nutzer des Netzwerks sind überrascht, wenn sie feststellen, wie schnell twitter auf Ereignisse reagiert. Diese Geschwindigkeit ist unter anderem eine Folge der Zeichenbegrenzung: Ein Tweet, also eine Äußerung auf twitter, hat nur 140 Zeichen Platz. Links werden nicht voll gezählt. Die Mini-Informationen, Kommentare und Äußerungen können auf mehrere Weisen organisiert werden. Zum Einen haben Nutzer_innen des Netzwerks eine sogenannte „Timeline“. Wie der Newsfeed bei facebook besteht diese Timeline aus den Posts der Menschen, mit denen man verbunden ist. Bei twitter ist die Verbindung immer erst unilateral, d.h. von einer Seite ausgehend. Indem Du anderen Nutzern folgst, stellst Du Dir Deine Timeline zusammen. Apps erlauben bis heute die chronologische Sichtung des gesamten Newsfeeds – eine sehr sinnvolle Funktion. Für die meisten Nutzer_innen ist die eigene Timeline der erste Anhaltspunkt, dass etwas passiert sein könnte. Im Feed tauchen dann plötzlich vermehrt Meldungen unter einem bestimmten hashtag auf, gestern z.B. #münchen oder #oez. Diese hashtags organisieren twitter und fassen Äußerungen zu einem Thema oder Ereignis zusammen. Ein Klick auf den hashtag, und Du siehst alle Kommentare und Äußerungen zum jeweiligen Thema. Ein großartiges Tool! Mit dem leider kaum jemand richtig umgehen kann, aber dazu gleich mehr.

Zum Anderen gibt es noch die Trends. Auf der Startseite von twitter werden hashtags angezeigt, über die aktuell viel getwittert wird. So kannst Du sehen, was der Rest Deutschlands und der Welt gerade twitternswert findet, auch wenn Deine eigene Bubble mit etwas anderem beschäftigt ist. Wichtige Funktionen sind die Retweets und die Mentions. Ein Retweet ist eine Wiederholung einer Äußerung. Du stellst damit die Information, den Kommentar, das Bild oder was auch immer Du gerade teilenswert findest, den Menschen, die Dir auf twitter folgen, zur Verfügung. Eine Mention ist die direkte Ansprache einer oder mehrerer anderer Nutzer_innen. Du kannst damit antworten oder jemand Bestimmten auf etwas aufmerksam machen. Wie diese Grundfunktionen in einem Fall wie gestern genutzt werden können, zeige ich im Folgenden.

Twitter ist super. Twitter ist grauenvoll.

Dass twitter ein sehr großes, selten wirklich genutztes Potential hat, ist seit den Gezi-Aufständen in der Türkei deutlich geworden. Über 30% der türkischen Bevölkerung nutzen twitter, und sie verwendeten das soziale Netzwerk, um sich zu organisieren und sich gegenseitig zu helfen. Gestern sah es so aus, als ob wir twitter in Deutschland ebenfalls tatsächlich einmal bräuchten, ja vielleicht das Potential dieses Netzwerks sogar ausschöpfen könnten.

Aber zunächst passierte das, was nicht hätte passieren dürfen. Innerhalb von Minuten verbreitete sich ein noch nicht verifiziertes Video vom Täter, mehrere Bilder von einem vollkommen anderen Ereignis waren im Umlauf, und Nutzer sowie Journalisten mit großer Reichweite twitterten Bilder vom Polizeieinsatz vor Ort. Eine Katastrophe, denn kein Mensch wusste zu diesem Zeitpunkt, wie organisiert der oder die Täter sind, und was sie noch planten. Darüber hinaus gab es falsche Vermisstenmeldungen und sehr viel rechte Hetze unter den hashtags #münchen und #oez. Die twitter-Nutzer_innen zeigten eindrucksvoll, wie man das Medium blockieren kann. Wie das?

Jede Äußerung, jeder eigene Tweet zu den Ereignissen, der mit den entsprechenden hashtags versehen wird, landet auch in der allgemeinen Timeline zu diesem hashtag. Das bedeutet, dass schon nach kurzer Zeit keine wichtigen Informationen mehr durchkommen – der hashtag wird zugemüllt, in rascher Abfolge möchte jede_r den eigenen Senf hinzugegeben haben, möglichst sofort, und wichtige Meldungen wie z.B. die der Polizei können in dem starken Rauschen, das alle verursachen, leicht übersehen werden. Besser: Informationen lediglich retweeten, und die eigenen Kommentare zum Geschehen nicht mit hashtag versehen. Das erfordert ein wenig Übung bzw. ein gewisses Bewusstsein über die Grundfunktionen, ist aber erlernbar.

Aber auch beim Weiterleiten von Informationen gibt es Dinge, die Nutzer_innen besser lassen sollten. Dazu gehört das Weiterverbreiten von nicht überprüften Bildern, Videos und Infos. Jede nicht überprüfte oder überprüfbare Information schadet den Menschen direkt vor Ort. Mutmaßungen über mehrere Täter, Kommentare von eventuellen weiteren Schüssen in der Innenstadt, Bilder von Opfern und Videos aus unklarer Quelle schürten gestern die Ängste der Menschen, die in dieser Situation gefangen waren. Das ist nicht nur vollkommen unnötig, sondern fahrlässig und sehr unsensibel.

Mehr als fahrlässig, ja: potentiell extrem gefährlich sind Bilder vom Einsatzort, auf denen auch Polizisten zu erkennen sind.

Dabei denken sich die wenigsten Menschen etwas Böses. Denn wir alle haben nirgendwo gelernt, wie man mit den sozialen Medien in einem solchen Fall umgeht. Nachdem der hashtag #münchen gestern für mich unlesbar wurde, konzentrierte ich mich auf meine eigene Timeline. Und stellte dabei etwas Großartiges fest:

Zunächst wiesen sich Menschen, denen ich folge, gegenseitig auf die oben genannten Probleme hin. Es wurde diskutiert und auch gestritten, aber vor allem versuchten sie, zu helfen. Aufrufe, den hashtag nicht unnötig zu verwenden, Hinweise, die Bilder der Polizei nicht weiterzuleiten, und die gegenseitige Versicherung, dass die Münchner meiner Timeline in Sicherheit sind, beherrschte gestern Abend meinen eigenen Newsfeed. Darüber hinaus verwies meine Timeline immer wieder auf den Twitteraccount der Polizei München, der einen wirklich großartigen Job machte. Als ich ins Bett ging, war der besonnene und umsichtige Account bereits viersprachig unterwegs und leitete die wichtigsten Infos für die Bevölkerung Münchens weiter.

Im Laufe des Abends stellten viele Twitternutzer_innen fest, dass die Bilder vom Einsatzort trotz aller Hinweise weiter geteilt und verbreitet wurden. Um den hashtag zu fluten, begannen die Menschen nach dem Brüsseler Vorbild den Stream zu „verwässern“ – also genau das zu tun, was ich oben als „Fehler“ beschrieben habe. In kurzer Zeit war mein Newsfeed voller Katzenbilder. Nur geschah das zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt und in der vollen Absicht, den hashtag für potentielle Attentäter unbrauchbar zu machen. Die Katzenbilder hatten wie in Brüssel auch einen weiteren Effekt: Sie wirkten beruhigend.

Parallel dazu begannen die Münchner_innen, unter dem hashtag #offenetür zu twittern. Wie bei den Anschlägen in Paris machten sie den in München und Umgebung gestrandeten Menschen damit kenntlich, wo sie hingehen können. Da der öffentliche Nahverkehr vollständig zum Erliegen gekommen war, und auch keine Fernzüge mehr fuhren, schlossen sich die Münchner Moscheen, das Polizeipräsidium, der Landtag, mehrere Parteizentralen und verschiedene Hotels der Aktion an. Sowohl für die Privatpersonen als auch für die Institutionen war das ein Risiko – denn immer noch wusste niemand genau, wie viele Täter unterwegs waren. In den hashtags zur offenen Tür herrschte wesentlich mehr „Funkdisziplin“ – bis ich ins Bett ging, blieben sie lesbar. Verschiedene Nutzer_innen hatten sich sogar nur deswegen einen Account gemacht, um eine offene Tür anbieten zu können. Beispiellos.

Hinzu kamen Umsicht und Besonnenheit von vielen Menschen, denen ich folge. Hinweise an die „offenen Türen“, ihre Adressen auf keinen Fall öffentlich zu teilen, Korrekturen oder Tipps, wenn Tweets missverständlich waren, Verständnis für angespannte Nerven und ein insgesamtes Zusammenrücken waren in meiner Timeline deutlich spürbar. Trotz der schrecklichen Ereignisse wachte ich heute deswegen mit einem Gefühl der Dankbarkeit auf. Die Nutzung von sozialen Medien im Katastrophenfall ist ein Lernprozess, durch den wir alle durchmüssen. Nur indem wir nutzen und lernen, können wir das große Potential auch für gegenseitige Hilfe und Unterstützung nutzen.

Mein Beileid den Angehörigen der Opfer.

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Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 23.07.2016 16:31:09

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