Die Einschläge kommen immer näher, immer schneller. Doch Wladimir Putin reagiert auf die wiederholten Einfälle Bewaffneter ins Grenzgebiet zur Ukraine und auf Drohnenangriffe, mittlerweile sogar auf Moskau, bemüht gelassen. Oft schweigt Russlands Präsident schlicht, jedenfalls nach außen.

Anfang Mai gab es einen nächtlichen Angriff mit zwei Drohnen auf den Senatspalast im Kreml. Dort, im Herzen der Hauptstadt, empfängt Wladimir Putin regelmäßig Gäste. Es gibt zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen, ein Angriff galt vielen als undenkbar. Putin sagte nichts zu den Drohnen. Erst Tage später kam heraus, dass er den Angriff doch kommentierte, bei einem Treffen mit Chefredakteuren hinter verschlossenen Türen. Putin habe gesagt, an den verwendeten Drohnen sei „nichts Besonderes“ gewesen, man kenne solche selbst gebauten Fluggeräte schon von Einsätzen gegen die russische Luftwaffenbasis in Syrien. Das berichtete Andrej Kolesnikow, der Putin seit mehr als zwei Jahrzehnten für die Zeitung „Kommersant“ begleitet. „Er schien den Ereignissen nicht so viel Bedeutung beizumessen wie der Rest der Welt“, folgerte Kolesnikow.

Was sind die „roten Linien“?

In Russland ist oft von „roten Linien“ die Rede, die Kiew respektive der Westen überschritten, und von einer „harten Antwort“ darauf. Auch im Westen fürchtet mancher ein nukleares Armageddon nahe, wenn Putins Machtapparat einen „Terroranschlag“ beklagt. Doch die Mittel, die Russland als Reaktion einsetzt, sind konventionell und auf die Ukraine beschränkt.

„Du hast mehrfach gesagt, alle ‚roten Linien’ seien verletzt worden“, hielt Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Senders RT und eine der wichtigsten Figuren des Propagandaapparats, Mitte Mai einem Studiogast in einer Talkshow entgegen. Doch wer aus der Führung Russlands habe „auch nur einmal“ erklärt, was eine solche „rote Linie“ sei? Fernsehexperten hätten das getan, aber niemals habe Putin selbst gesagt, was sich hinter der Formulierung verberge. „Da können wir nur raten“, sagte Simonjan.

In Wirklichkeit hatte die Formel von den „roten Linien“ Russlands sehr wohl auch bei Putin Konjunktur. Vor allem 2021, dem Jahr vor dem großen Überfall auf die Ukraine, als Putin im Ringen mit dem Westen Druck machte. Mal nannte der Präsident als Beispiele für solche Grenzen „Provokationen, die unsere ureigenen Sicherheitsinteressen bedrohen“. Dann waren es moderne Raketensysteme, welche die Ukraine erhalte, und die Moskau nach vier bis zehn Minuten Flugzeit erreichen könnten. Mit Blick auf die Folgen, die eine Überschreitung „roter Linien“ habe, blieb Putin vage, drohte aber mit dem russischen Nuklearwaffenarsenal. Der Eindruck, er könne immer ein As aus dem Ärmel ziehen, zählte zu seiner Eskalationsdominanz. „Alles in allem haben wir noch gar nichts ernsthaft begonnen“, sagte Putin Anfang Juli 2022 über den Krieg gegen die Ukraine.

Damals wirkten Russlands militärische Perspektiven wesentlich besser als heute. Doch das Bild der Stärke bekam immer mehr Risse. Im August 2022 wurde die Kriegsenthusiastin Darja Dugina bei der Explosion einer Autobombe nahe Moskau getötet. Im September und November folgten Rückzüge aus dem Gebiet Charkiw und aus Cherson, im Oktober gab es den Anschlag auf die Brücke vom russischen Festland auf die von Moskau annektierte Krim. Mittlerweile erscheint Putin wie in einem Kokon. Selbst auf Kurztrips in die besetzten Gebiete, wenn er Kommandeure trifft oder sich den Wiederaufbau von Mariupol erklären lässt, bleiben Probleme außen vor. Als Bewaffnete am 22. Mai ins westrussische Belgoroder Gebiet einfielen, wurde der Präsident laut dessen Sprecher, Dmitrij Peskow, informiert, eine „Gruppe ukrainischer Saboteure“ habe versucht, in das Gebiet einzudringen; diese werde nun aufgerieben.

Putin spricht lieber über anderes

Putin äußerte sich auch dazu nicht. Stattdessen ließ er sich vom Vorsitzenden des Obersten Gerichts am Nachmittag jenes Tages über die Schaffung von „Gerichten in den neuen Subjekten“ unterrichten, wie die im Herbst annektierten Teile der Ost- und Südukraine genannt werden. Bemühte Routine für Putin, der Erfolge will. Der erste Einfall ins Belgoroder Gebiet galt offiziell als Werk von „Ukrainern“, die damit von der „Befreiung von Artjomowsk“, also der angeblichen Einnahme der ostukrainischen Stadt Bachmut durch die Russen, hätten „ablenken“ wollen, aber „vernichtet“ worden seien. Daran änderte sich auch nichts, als russische Kämpfer auf ukrainischer Seite offen auf einer Pressekonferenz über ihre Attacke berichteten. Die schwer bewaffneten Putin-Gegner zerstören nämlich gleich zwei Kreml-Kernerzählungen: die von der Stärke des Militärs und die von einer Konsolidierung der Gesellschaft hinter Putin.

Mit den Drohnenangriffen vom Dienstagmorgen auf Moskau und das Umland der Hauptstadt wurde eine weitere, bis vor Kurzem unvorstellbare Gefährdungsstufe für Russland erreicht. Drohnen erreichten das Moskauer Umland, wo die Elite wohnt und Putins Arbeitsresidenz Nowo-Ogarjowo liegt. Abermals verlief die Reaktion nach dem üblichen Schema: Man sprach von einem ukrainischen „Terrorangriff“, redete ihn aber klein und lobte sich selbst. Auch Putin, der sich erst in der zweiten Tageshälfte äußerte, pries im Rahmen eines planmäßigen Treffens die „ordentliche“ Arbeit der Luftabwehr „bei uns in der Hauptstadt“, auch wenn man wisse, woran noch „zu arbeiten“ sei, und kritisierte einen „Versuch, den Bürgern Russlands Angst zu machen“.

Zudem sprach Putin von den Drohnenangriffen als einem „Versuch, uns zu spiegelbildlichen Handlungen zu verleiten“. Dass die Bewohner Kiews derzeit Nacht für Nacht Angriffen ausgesetzt sind, wollen viele Russen einfach nicht wissen. Nun hebt Putins Personal hervor, dass alle Schäden beseitigt worden seien, und fordert, gegen Leute vorzugehen, die Aufnahmen von Drohnen und der Flugabwehr veröffentlichen. Die entscheidende Frage, wie die Drohnen wohl über Hunderte Kilometer über russisches Gebiet auf Moskau zufliegen konnten, wird nicht diskutiert.

Putin wartet ab

Die Politologin Tatjana Stanowaja vermutet, dass Putin von der Duldsamkeit der Russen ausgehe, an der keine noch so freche ukrainische Attacke etwas ändern könne. Putin, so Stanowaja in einer Analyse für die Carnegie-Denkfabrik, fürchte eher „Alarmismus“: Wenn ein Gefühl der Bedrohung an Boden gewänne, müsste der Machtapparat handeln und Ressourcen für Gegenmaßnahmen mobilisieren, die der „Abwartetaktik“ zuwiderliefen. Es sei für alle einfacher, alles zu vertuschen, als Verletzlichkeit zuzugeben. Das Problem sei, dass dieses Vorgehen Grenzen hat: „Das Volk will eine starke Staatsgewalt, aber die sieht immer konfuser und hilfloser aus.“

Quelle: F.A.Z.

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