Die Gruppe 47, Günter Grass und die Todesfuge

„Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ Todesfuge - Paul Celan

Fotomontage von Manfred Breitenberger https://thinktankboy.files.wordpress.com/2012/12/grass47.jpg

Im Jahre 2003 veröffentlichte der Hamburger Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb sein Buch „Mißachtung und Tabu – Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ Briegleb untersucht darin den deutschen Antisemitismus nach der Shoah und den Umstand, dass die Gruppe 47 sich nicht um ihn gekümmert hat. Die Gruppe 47 hat am Gedeihen des besonderen deutschen Antisemitismus nach 1945 aus der Position einer angemaßten moralischen Unbescholtenheit durch Missachtung, Desinteresse und Verdrängung mitgewirkt, so die Kernthese des Bandes. Vor allem die Antworten auf die Frage welche Funktion heute jene mit welchen Ansichten erfüllen, die einst zur Gruppe zählten, sind gewinnbringend zu lesen und lassen den aktuellen Antisemitismus besser begreifen.

Nachdem die Zeitschrift „Der Ruf“ um die Kriegsheimkehrer Hans Werner Richter und Alfred Andersch wegen ihrer Kritik am „Besatzungsregime“ von den USA im Jahr 1947 verboten wurde, gründete Hans Werner Richter die Gruppe 47 und lud dazu von 1947 bis 1967 zum Schriftstellertreffen ein. Der Zirkel um Richter war eine einflussreiche Institution im Kulturbetrieb der Bundesrepublik Deutschland. Hans Werner Richter setzte schnell eine Art Corpsgeist unter den Schriftstellern der Gruppe 47 durch, Schriftsteller jüdischer Abstammung, sowie Emigranten wurden an den Rand gedrängt, so war seine „Einladungspolitik“ sehr schnell umstritten. Die „jüdisch-deutsche Differenz nach der Shoah“ wurde von der Gruppe 47 keineswegs thematisiert. Klaus Briegleb weist nach, wie groß in dem Schriftstellerzirkel der Widerwillen war, die Verbrechen der Deutschen und vor allem was den Juden geschah zu thematisieren. Die „jungdeutschen“ Kriegsheimkehrer und Flakhelfer wollten sich „etwas von der Seele schreiben“ um mit der Vergangenheit abzuschließen. Die ehemaligen Flakhelfer, Soldaten und – wie wir heute wissen – SS-Angehörigen proklamierten in der Gruppe 47 die „Stunde Null“ und beanspruchten zugleich, für die deutsche Literatur zu stehen. Richter und viele seiner Mitstreiter suchten die einebnende Gemeinsamkeit, die Juden und die Christen, die Deutschen und die Sowjetrussen waren für sie die Opfer „des Krieges“, als sei der Nationalsozialismus „vom Himmel“ gefallen, eine Naturkatastrophe für welche die Deutschen kaum etwas konnten.

Obwohl Hans Werner Richter nichts von Paul Celans Gedichten hielt, wurde der Lyriker eingeladen. Im Mai 1952 trug Paul Celan in Niendorf seine noch unbekannte Todesfuge vor. Nach dem Auftritt kam es zu unübersehbarer Missachtung gegenüber dem Juden Celan: „Das kann doch kaum jemand hören!“ oder „Er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht“ waren die unmittelbaren Reaktionen innerhalb der Gruppe. Walter Jens meinte gar, „der liest ja wie Goebbels!“ und Richter machte sich über Celan lustig, in dem er sagte, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge.“

Schwer gekränkt nahm Celan an keinem Treffen der Gruppe 47 mehr teil. Die Aggression der Gruppe gegen Paul Celan und die „Emigrantendeutsch“ schreibenden geflohenen Dichter wurde nun überdeutlich. Ingeborg Bachmann schrieb in ihr Tagebuch zu Niendorf: „Am zweiten Abend wollte ich abreisen, weil ein Gespräch, dessen Voraussetzungen ich nicht kannte, mich plötzlich denken ließ, ich sei unter deutsche Nazis gefallen (...) Am zweiten Tag wollte ich abreisen, am dritten Tag las ich ein paar Gedichte vor, vor Aufregung am Ersticken…“

Trotz eines Apelles von Marcel Reich-Ranicki blieb der harte Kern der Gruppe dem Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 fern. Die Isolierung von Peter Weiss innerhalb der Gruppe 47 verstärkte sich wegen seines Interesses am Prozess und unter Federführung von Günter Grass wurden die Auschwitz-Texte von Peter Weiss „geschmäht“. So wurde Peter Weiss 1966 vorgehalten, er habe nicht das Recht, über Deutschland zu sprechen. Peter Weiss hielt die zynische Begründung fest: „Wo ich denn während des Kriegs gewesen wäre?“ Obwohl das antisemitische Ressentiment nur selten so offen zu Tage trat, wie es sich im Falle Celans zutrug, gab es mittlerweile vermehrt diesbezügliche Kritik von außerhalb der Gruppe. Nachdem Hermann Kesten der Gruppe vorwarf, sie würde antisemitischen Vorbildern nacheifern, schreibt der Gruppenchef Hans Werner Richter am 25. Januar 1961 in einem Brief:

„Kesten ist Jude und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d.h. ich rechne Kesten nicht zu uns zugehörig, aber er empfindet es so. Wie aber soll man diesem eitlen und so von sich überzeugten Mann beibringen, welches Unheil er anrichtet?“

Günter Grass und Martin Walser prägten die Gruppe 47 mit ihrer Verdrängungsliteratur, ihre „Flegeljahre“ aus der Hitlerjugend dauerten sehr lange an. Die Flakhelfer-Generation um Grass und Walser ist bis heute der Stichwortgeber für die scheinbare Legitimation des antisemitischen deutschen Stammtisches. Der „irgendwie linke“ Martin Walser wollte 1998 nichts mehr von der angeblichen „Dauerpräsentation unserer Schande“ hören und sprach von einer „Moralkeule“ im Zusammenhang mit Auschwitz. Nach der Kritik an Walsers Rede in der Paulskirche, nach der Kritik an seinem Buch „Tod eines Kritikers“, reagierte Walser wie sein Ziehvater Richter es ihm lehrte: „Es geht um den Kritiker nicht um den Juden.“ Der Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, den man immer loswerden wollte, den man zum Schweigen bringen wollte, kam aus dem Osten, der Region, die im literarischen Gedächtnis der Gruppe 47 von ihren Anfängen keinen Platz hatte. Zur Erinnerungsabwehr-Rede Martin Walsers in der Paulskirche sagte Ignaz Bubis das Nötige, wobei die Massen viel lieber der Worten Walsers lauschten.

Wie kaum ein anderer ist Günter Grass ein Produkt der Gruppe 47. Bereits in seiner „Blechtrommel“ deutet Grass an, was er unter der Aufarbeitung des Nationalsozialismus versteht. Am Ende des Buches werden die Deutschen in Danzig mit Viehwaggons zurück ins Reich deportiert, eine offensichtliche Anspielung auf die Deportation der Juden in Richtung Osten. Zudem kommt ein Herr Fajngold, ein Jude aus Treblinka, in der „Blechtrommel“ nach Danzig. Im Rahmen der Umsiedlungsmaßnahmen wird ihm der Laden eines enteigneten Deutschen zugesprochen. Die Nazis hätten die literarische Karikatur eines Juden nicht besser im „Stürmer“ erscheinen lassen können. So betrieb Grass bereits damals eine Täter-Opfer-Umkehr. Am offensichtlichsten wird die Schuldabwehr von Günter Grass in seinem 2002 erschienenen Roman „Im Krebsgang.“ Während Grass, “ermüdet vom Kampf um die Vergangenheitsbewältigung in seiner Danziger Trilogie”, über die „eigene Schuld“ spricht, betrauert er wieder einmal viel zu lange darüber geschwiegen zu haben, dass auch die Deutschen Opfer waren. Im „Krebsgang“ macht Grass seine Opferbilanz auf und begräbt mit der Umkehrung der Opferrollen sein eigenes Schweigen. Günter Grass in „Krebsgang“: Als die „Gustloff“ untergeht, ertönt „ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei.“ Ein Schrei, der sich in den Lagern der Shoah seit Buchenwald millionenfach erhoben hat. Der Ex-Waffen-SS-Soldat schreibt vermeintlich entlastend, dass er in seinem Panzer auf dem Weg nach Osten keinen einzigen Schuss abgegeben hat. Mit „Krebsgang“ versucht Grass eine deutsche Opfernation, eine entschuldete Täternation zu erschaffen. Mit der Metapher des „Endschreis“ beim Untergang des deutschen Flüchtlingsschiffs „Gustloff“ am 30. Januar 1945 ist die „Endlösung der Judenfrage“ literarisch pervertiert, meint nicht nur Klaus Briegleb.

Im Jahre 2011 behauptet Günter Grass in einem Interview in Israel, dass die Sowjetunion sechs Millionen deutsche Kriegsgefangene liquidiert hätte. In Wahrheit gerieten etwa drei Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, von denen etwa 1,1 Millionen nicht überlebten. Was Günter Grass mit der Zahl „sechs Millionen“ bezwecken wollte, lag auf der Hand. Der ehemalige Wehrmachts-Freiwillige, der den reibungslosen Betrieb von Auschwitz mit ermöglichte, versuchte wieder einmal zu entlasten. Nachdem Grass seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS bis zum Jahre 2006 verschwiegen hatte, während er in den 1980er Jahren Bundeskanzler Kohl massiv kritisierte, weil dieser Hand in Hand mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan im Mai 1985 den Soldaten-Friedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch vierzig SS-Gefallene liegen, wollte er 2012 mit seinem antisemitischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ wieder einmal nicht mehr schweigen.

Anfang August 1990 überfiel der Irak das Ölscheichtum Kuwait. Der Sicherheitsrat der UN stellte ein Ultimatum für einen Rückzug der irakischen Streitkräfte. Saddam Hussein drohte daraufhin Israel, das in diesem Konflikt bis dahin nicht beteiligt war, im Falle eines alliierten Militärschlages mit Giftgas-Raketen anzugreifen und den jüdischen Staat zu zerstören. Mit Hilfe deutscher Firmen war es dem Irak gelungen ein Giftgasarsenal aufzubauen. Nach Ablauf des Ultimatums griffen alliierte Streitkräfte unter amerikanischer Führung den Irak an, worauf irakische Truppen Scud-Raketen auf Israel abfeuerten. Die israelische Bevölkerung verbrachte die Nächte mit Gasmasken in Bunkern und anderen Schutzräumen. Obwohl dreizehn Israelis getötet und hunderte verletzt wurden, hielt sich die israelische Regierung an die Absprachen, nicht in den Konflikt einzugreifen. In der deutschen Öffentlichkeit sorgte weder der Einmarsch des Irak, noch die Ankündigung Husseins, Israel unter anderem mit Giftgas auslöschen zu wollen, für besondere Aufmerksamkeit. Erst im Januar 1991, kurz vor dem Ablauf des Ultimatums, kam es zu Massendemonstrationen der „Friedensbewegung“, die sich mehr oder weniger mit Saddam Hussein solidarisierte und Israel die Schuld für den Konflikt gab.

Zu dieser Zeit trat Günter Grass in einer Podiumsdiskussion gemeinsam mit dem israelischen Schriftsteller Yoram Kaniuk auf. „Kein Blut für Öl“ und „Es gibt keinen gerechten Krieg“ waren die Parolen des „Friedensfreundes“ Grass. Das deutsche Gas für den Irak interessierte Günter Grass nicht weiter. Wieder einmal, nun während des zweiten Golfkrieges, solidarisierte sich die deutsche „Massenseele“ mit der moralischen Autorität eines ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS. Die Entlastungserzählungen von Günter Grass mit der Entsorgung der eigenen Geschichte und die Forderungen Martin Walsers, wieder ganz „unverkrampft“ zur Nation Deutschland zu stehen, waren und sind Teil der neuen Rahmenbedingungen in welchen die Mehrheit der Deutschen ihren Antisemitismus, der nach 1945 nicht einfach verschwand, wieder ausleben durfte.

Yoram Kaniuk schreibt in seinem Buch „Der letzte Berliner“ über Günter Grass und die damalige Diskussion: „Er trieb mich mit seinen politischen Argumenten immer mehr in die Enge, um den Streit über den Golfkrieg mit dem Leiden der Palästinenser und nicht mit dem deutschen Gas für den Irak zu verknüpfen. Etwas von dem Ton, der in seinen Worten anklang, konnte man auch in Hannah Arendts Buch über den Eichmann-Prozess spüren, in dem die Juden und die Deutschen sich gleichen, obwohl die Juden die Opfer und die Deutschen die Täter sind. Unser gerechtes Anliegen, das Anliegen der Juden und ihrer Kinder, die aus Deutschland fliehen mussten oder vertrieben wurden, hätte einen Teil der Debatte ausmachen sollen, doch Grass mit seinem geschliffenen Verstand und seiner rhetorischen Begabung wehrte jeden Versuch ab, aus der engen politischen Ecke herauszukommen und eine allgemeine Diskussion über das Wesen des Bösen zu beginnen, und der Beifall des Publikums bewies, dass es auf seiner Seite stand. Die Diskussion hinterließ bei mir einen bitteren Geschmack. Das ganze Gerede über die Unmoral aller Kriege ärgerte mich damals und ärgert mich heute noch. Es gibt alle möglichen Kriege. Gott sei Dank haben die Alliierten gegen die Nazis gekämpft, und Gott sei Dank haben sie gesiegt. Gott sei Dank haben wir im Unabhängigkeitskrieg gesiegt und einen Staat für die Juden gegründet, die niemand aufnehmen wollte. (…) Es fiel mir schwer, mich damit abzufinden, dass ein Humanist wie Grass die Unvernunft der deutschen Linken verteidigt, die mit dem Mörder und Diktator Saddam sympathisierte. Ich hatte gehofft, er würde es als schweren Fehler bezeichnen, dass Deutsche nicht gegen die Lieferung von Giftgas und dessen Verwendung für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen demonstrierten und stattdessen lauthals den Krieg gegen einen grausamen Diktator anprangerten, doch er sagte nichts dergleichen. Das Argument, dass alle Kriege unmoralisch sind, macht mir mehr Angst als hundert Haiders in Wien oder hundert Aufmärsche von Skinheads mit auftätowierten Hakenkreuzen.“

Erstveröffentlicht in Mission Impossible

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