Die Oktoberrevolution und die Pogrome von 1918 bis 1921 in der Ukraine

Fotomontage Manfred Breitenberger, Bilder aus Jeffrey Veidlinger – Mitten im zivilisierten Europa – Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust, C.H.Beck-Verlag

Zwischen November 1918 und März 1921 wurden in der Ukraine während des Bürgerkriegs an über 500 Orten in weit über 1000 Pogromen über 100.000 Juden in erster Linie von Anton Denikins weißer Freiwilligenarmee, Symon Petljuras Milizen, enteigneten Bauern und anderen Soldaten ermordet, die sie für die Russische Revolution und deren Folgen verantwortlich machten. Etwa zwei Drittel aller jüdischen Häuser und über 50 Prozent aller jüdischen Geschäfte wurden geplündert oder zerstört. Die Motivation für das antisemitische Morden zwischen 1918 bis 1921 war dieselbe wie im 2. Weltkrieg in den deutsch besetzten Regionen der sowjetischen Ukraine, sie war vor allem angetrieben durch die Feindschaft gegen den Bolschewismus und die vermeintliche Prominenz von Juden in dieser Bewegung. Mithilfe des kaiserlichen Deutschlands hatte sich die Ukraine 1918 von Russland abgespalten und mit dem „Frieden von Brest-Litowsk“ hielten deutsche Truppen die Ukraine besetzt, so war die Ukraine das letzte Bollwerk gegen die Oktoberrevolution. Der Holocaust-Historiker Jeffrey Veidlinger hat diese Welle genozidaler Gewalt, die Pogrome unter anderen von Ovrutsch, Proskuriv oder Lviv rekonstruiert, „bei der die Ukrainer zu dem Ergebnis kamen, dass die Ermordung von Juden eine akzeptable Antwort auf ihre Probleme sei“. Jeffrey Veidlinger ist Professor für Geschichte und Judaistik an der University of Michigan und forscht über Neuere jüdische Geschichte, Russland und Osteuropa sowie zum Holocaust.

Die Oktoberrevolution

Mit der Oktoberrevolution von 1917 übernahmen die kommunistischen Bolschewiki die Macht in Russland. Die Doppelherrschaft der sozialistisch-liberalen Regierung unter Alexander Kerenski und des Petrograder Sowjets wurde abgelöst. Die Oktoberrevolution war eine Folge des Ersten Weltkriegs und der verhassten Zarenherrschaft. Lenin versprach einen „demokratischen Frieden für alle Nationen und einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten“ und er verkündete das „Recht auf Selbstbestimmung“ für „alle Nationalitäten in Russland“. Es war den Bolschewiki gelungen, die Macht in der russischen Hauptstadt zu erringen, und sie begannen ihre Revolution sofort in den Rest des ehemaligen Zarenreichs zu exportieren. Juden wurden im zaristischen Russland massiv diskriminiert und waren zahlreichen Pogromen ausgesetzt, so beteiligten sich viele Juden aktiv an der Revolution in der Hoffnung auf ein besseres und gleichberechtigteres Leben.

Zwei Wochen nach Absetzung des Zaren bildeten sozialistische Parteien eine ukrainische Regierungsinstanz, die Zentralna Rada nach dem Vorbild der Sowjeträte. Ein Allukrainischer Nationalkongress mit 1500 Delegierten wählte 150 Abgeordnete in den Zentralna Rada. Sekretär für militärische Angelegenheiten wurde der Journalist Symon Petljura, der die Hajdamaken-Bauernarmee aufstellte und schnell zum Führer der ukrainischen Nationalbewegung aufstieg. Weil die Zentralna Rada sich weigerte die Regierung der Bolschewiki anzuerkennen marschierten zehntausend russische Soldaten zusammen mit den paramilitärischen „Roten Garden“ der Bolschewiki in Richtung Kiew. Der Bürgerkrieg, der bereits das ehemalige Russische Reich zerriss, tobte nun auch in der Ukraine.

Brest-Litowsk

Lenin versprach den Frieden und im Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichneten die Bolschewiki unter Protest am 3. März 1918 das Abkommen um den Erfolg der Oktoberrevolution nicht zu gefährden. Der 1. Weltkrieg hatte zwischen fünf und sieben Millionen Flüchtlinge im ganzen Russischen Reich vertrieben, darunter 300.000–500.000 Juden. Der russischen Delegation gehörten neben dem Vorsitzenden Adolph Joffe, Lev Kamenev und Grigori Sokolnikov an. Alle waren im Exil eng mit Trotzki verbunden, Kamenev war mit Trotzkis Schwester verheiratet und alle hatten jüdische Wurzeln. Im „Raubfrieden von Brest-Litowsk“ gaben die Bolschewiki ihren Anspruch auf fast 1,3 Millionen Quadratkilometer Territorium im westlichen und südlichen Grenzgebiet des früheren Russischen Reichs auf, wo über 50 Millionen Menschen lebten. Die Bolschewiki mussten Litauen und das frühere Königreich Polen abtreten, die Unabhängigkeit Finnlands und der Ukraine anerkennen und ihre Truppen vom gesamten ukrainischen Territorium abziehen. Da sie keine Wahl hatte, unterzeichnete die Delegation in Brest-Litovsk den demütigenden Friedensvertrag am 3. März „ungelesen“, wie Trotzki schrieb. Gleichzeitig stellten geflohene zaristische Generäle ihre Streitkräfte in Südrussland auf um ein vereintes Russland wiederherstellen und Teile des alten Regimes zu restaurieren. Sie erhielten sogar finanzielle Unterstützung von reichen jüdischen Eliten, die sie als sichersten Schutz des Privateigentums betrachteten. Die weißen Offiziere an der Spitze dieser Freiwilligenarmee waren siegesscher weil die Entente-Mächte, die ehemaligen Verbündeten des Zaren, England und Frankreich sie gegen die Bolschewiki mit Waffen und Personal unterstützten.

Besatzung und Bürgerkrieg

In den kommenden Wochen und Monaten sahen die hungernden ukrainischen Bauern zu, wie die deutschen Besatzer ihr Land ausplünderten. Deutsche Züge brachten Getreide, Speck und amerikanische Packard-Wagen, die der zaristischen Armee gehört hatten, außer Landes. Sie stahlen sogar das Land selbst, indem sie Tausende Waggons mit wertvoller Schwarzerde füllten. Bauern, Arbeiter und Soldaten waren über die deutschen Beschlagnahmebefehle empört und fühlten sich von ihrer Regierung verraten, die ihnen das Land versprochen hatte.

Die deutschen Besatzer tobten andererseits als der jüdische Revolutionär Jakov Bljumkin am 6. Juli den deutschen Botschafter Graf Wilhelm von Mirbach in Moskau erschoss. In Moskau und Petrograd richteten sich nun Attentate gegen die Bolschewiki. Erneut wurde den Juden die Schuld für die Unruhen gegeben, was von der prominenten Rolle einzelner Juden bei den Vorfällen genährt wurde. Am 30. August 1918 schoss die 28-jährige Fanny Kaplan drei vergiftete Kugeln auf Lenin als er eine Moskauer Fabrik verließ. Am selben Tag ermordete der antibolschewistische Aktivist Leonid Kannegisser den Chef der Petrograder Geheimpolizei Moisei Urizki. Obwohl die beiden Terroristen unterschiedlichste Beweggründe hatten, wurde erwähnt, dass beide aus jüdischen Familien in der Ukraine stammten. Die Bolschewiki reagierten auf die Attentate mit der Gründung einer Geheimpolizei, die umgangssprachlich als Tscheka bezeichnet wurde. In fast jeder Provinz, in jedem Distrikt und jeder militärischen Einheit agierte die gefürchtete Tscheka, die mit den Revolutionstribunalen eng zusammenarbeitete. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs urteilten rund 200 Tribunale jährlich 200.000 Fälle in den von den Bolschewiki kontrollierten Gebieten ab.

Am 17. Juli, drang Jakov Jurovski, ein ehemaliger Talmudstudent, mit seiner Tscheka-Todesschwadron in den Keller des abgesetzten Zaren Nikolaus II. in Jekaterinburg ein und erschoss den abgesetzten Zaren mit seiner Familie um der ganzen Welt zu signalisieren, dass die Revolution der Bolschewiki unwiderruflich sei. Viele prominente Anführer der bolschewistischen Bewegung waren Juden. „Diese Zahlen wurden von den Anhängern des Zaren und den Weißen aber stark übertrieben, die den Prozentsatz von Juden in bolschewistischen Brigaden, Militäreinheiten und Führungspositionen veröffentlichten, um den Feind zu diskreditieren, mögliche Rekruten der Roten Armee abzuschrecken und ethnische Auseinandersetzungen anzufachen. Diese Politik der „Entlarvung“ von Juden in Machtpositionen nährte den Mythos der jüdischen Vorherrschaft und war ein machtvolles Mittel, um bei der christlichen Bevölkerung Argwohn gegen das neue Regime zu wecken. Die Anschuldigung, jemand sei ein getarnter Jude, konnte jedem Gegner angehängt werden, vor allem wenn er einen Zwicker trug. Tatsächlich war für einige russische Verschwörungstheoretiker sogar US-Präsident Woodrow Wilson ein heimlicher Jude“, so Jeffrey Veidlinger.

Die jüdischen Gegner der revolutionären Bewegung waren von den vielen Juden in der bolschewistischen Führung ebenfalls beunruhigt. Solomon Goldelman, der die sozialistisch-zionistische Partei Poale Ziyon Arbeiter Zions in der Zentralna Rada vertreten hatte, verachtete jene, die er „diese jüdischen Proselyten des Bolschewismus“ nannte.

Die Pogrome

Schon im Januar 1918 beraubten ukrainische Soldaten auf dem Bahnhof von Bachmatsch Juden oder verwehrten ihnen die Züge zu besteigen. Entlang der gesamten Strecke Kiew–Poltava schlugen Hajdamaken-Soldaten jüdische Passagiere mit ihren berüchtigten geflochtenen Peitschen, nahmen ihnen die Brieftaschen ab und stießen sie aus den fahrenden Zügen. „Ukrainische Bauern, polnische Stadtbewohner und russische Soldaten beraubten ungestraft ihre jüdischen Nachbarn und stahlen ihnen, was sie für ihren rechtmäßigen Besitz hielten. Mit Zustimmung und Unterstützung großer Teile der Bevölkerung rissen Bewaffnete jüdischen Männern die Bärte aus, zerrissen Thorarollen, vergewaltigten jüdische Frauen und Mädchen und folterten häufig jüdische Einwohner, bevor sie sie auf Marktplätzen versammelten, an den Stadtrand trieben und erschossen. „Bei den größten Pogromen gab es über 1000 Tote, doch die meisten waren kleiner; über die Hälfte der Vorfälle beschränkten sich auf Sachschäden, Körperverletzungen und höchstens einige Tote.“

Als 1919 die Macht des Staates schwand nahmen viele Bauern die Dinge selbst in die Hand und schlossen sich den Aufständischen an. Die Bauernbanden griffen Städte mit großem jüdischem Bevölkerungsanteil an, plünderten die jüdischen Geschäfte und ließen Leichen zurück. Von Januar 1919 bis März 1919 gab es etwa 150 solcher „Vorfälle“ und ab Sommer stieg die Zahl auf rund 90 pro Monat, die meisten davon in der Region Kiew, wo die Machtbasis der Bolschewiki schwach war.

Im Dezember 1919 startete die Rote Armee eine weitere große Gegenoffensive gegen Petljura und Denikin und die Briten und die Kosaken verließen das Bündnis, so löste sich Denikins Armee wieder einmal auf. Die völlig demoralisierten Soldaten nahmen auf ihrem Rückzug Rache an den jüdischen Bewohnern der Städte, durch die sie kamen. Am 25. Dezember erreichten sie zum Beispiel Tetijiv, eine kleine Stadt in den Hügeln des Dnepr am Fluss Ros. Die kleine Stadt mit einer blühenden jüdischen Gemeinschaft wurde komplett ethnisch gesäubert. Petljuras Männer begingen in Tetijiv Gräueltaten, folterten, demütigten und mordeten, sie schändeten Frauen, junge wie alte, von einer 60-Jährigen bis zu 14- und 15-jährigen Mädchen. Am Nachmittag des 26. Dezember sammelten sie Heu und Stroh, zündeten es an und warfen es in jüdische Läden und Wohnhäuser. Ähnliche Episoden spielten sich entlang der ganzen Rückzugsroute der Freiwilligenarmee ab. So plünderten die Soldaten in Kryve Osero, einer Stadt mit 15.000 Menschen nahe Odessa, jüdische Häuser, griffen Juden mit Säbeln, Messern, Äxten und Bajonetten an und sperrten mehrere junge jüdische Mädchen in ein Haus, das sie als Bordell benutzten. Die ehemals zaristischen Offiziere der Weißen hatten das Misstrauen der kaiserlich-russischen Armee gegenüber Juden geerbt und sahen sie als Urheber des Bolschewismus und inneren Feind, dessen Tücke die russische Niederlage im Ersten Weltkrieg bewirkt hatte. In ihrer Propaganda förderten die Weißen dieses Narrativ und verbreiteten es über die Region und schließlich um die ganze Welt.

In seiner Studie über die Weißen Pogrome von 1923 stellte Nochem Shtif fest, dass sich die von Anton Denikins geführter Freiwilligenarmee begangenen Pogrome durch ihren militärischen Charakter auszeichneten, die Massenvergewaltigungen von Frauen, die Demütigungen und Folterungen der Opfer und durch das Ziel, ganze jüdische Gemeinschaften zu vernichten, indem sie alles niederbrannten. „Im Gegensatz zu den Pogromen der Armeen Petljuras oder der verschiedenen Kriegsherren, die von Bauernsoldaten, aufständischen Soldaten aus städtischen Garnisonen oder örtlichen Schlägern begangen wurden, wurden die Pogrome der Weißen von uniformierten russischen Offizieren der ehemaligen zaristischen Armee gestartet, die die Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz geschworen hatten, Menschen mit «guten Manieren» aus „guten Familien“, die manchmal Philosophie lasen und klassische Musik spielten, aber auch vom Antisemitismus der alten zaristischen Eliten geprägt waren.“

„Exemplare der Protokolle der Weisen von Zion zirkulierten unter den Truppen, und aktualisierte Fassungen der berüchtigten Fälschung vermehrten sich. Ein Plakat der Streitkräfte Südrusslands trug etwa die Überschrift „Wer hat dem Volk den Sozialismus und die Bolschewiken beschert?“ und antwortete „Die Jidden.“ Das Plakat betonte die angebliche jüdische Herkunft der vielen prominenten Revolutionsführer, indem es zuerst ihre Geburtsnamen und danach in Klammern ihre neue Identität nannte: Bronstein (Trotzki), Nachamkes (Steklov), Zederbaum (Martov), Rosenfeld (Kamenjev), Katz (Kamkov), Apfelbaum (Sinofjev), Silberstein (Bogdanov), Goldman (Gorev), Kibrin (Kerenski), Goldenberg (Meschkovski), Goldstein (Solizev), Liberman (Tschernov), Goldfarb (Parvus) und Faystayn (Svesditsch) brauchen Russland nicht und denken nicht an das Wohl des russischen Volkes. Sie erträumen und arbeiten für die Zerstörung Russlands und die Schwächung des russischen Volkes. Das Dokument wiederholte die falsche Behauptung, Kerenski sei Jude, doch ansonsten waren die Namen weitgehend (wenn auch nicht ganz) korrekt.“

Um Trotzkis jüdische Wurzeln zu betonen, nannten Denikin und die Propaganda der Weißen ihn regelmäßig bei seinem Geburtsnamen Bronstein oder zumindest „Trotzki Bronstein“. Der kalkulierte Versuch, die bolschewistische Revolution als jüdische Verschwörung darzustellen, erwies sich als wirksames Mittel, um Unterstützung für die Weißen zu gewinnen. „Der britische Parlamentsabgeordnete Cecil L’Estrange Malone, der damals auf einer Mission in der Ukraine war, beschrieb, wie die Freiwilligenarmee Juden beim Einmarsch in Charkiv behandelte: „Jüdische Rotarmisten wurden ausgesondert und den Freiwilligen übergeben, die sie alle sofort mit Maschinengewehren erschossen.“ Über 200 meist jüdische Arbeiter wurden an vier Galgen auf dem Marktplatz und an Laternenpfählen in der ganzen Stadt gehenkt. In den nächsten drei Wochen begingen Weiße Armeen eine Serie von Gräueltaten und ermordeten 130 Juden in Krementschuk, 129 in Tscherkasy und 30 in Smila, um nur wenige Beispiele zu nennen.“

Mindestens fünf Menschen, die sich von Wunden erholten, die sie beim Pogrom in Fastiv erlitten hatten, wurden im Krankenhaus ermordet, als Soldaten in die chirurgische Abteilung eindrangen und wissen wollten, welche Patienten aus Fastiv gekommen seien. Semen Burakovsky, ein 39 Jahre alter Kaufmann, wurde in seiner Wohnung tödlich von Soldaten verwundet, die nach Aussage seiner Witwe brüllten: „Alle Jidden müssen sterben; sie sind alle Kommunisten.“ Vier Tage lang dauerte das Plündern und Morden und wurde jede Nacht heftiger. Viele Zeugen wiesen auf sexuelle Gewalt hin: „Solange ich lebe, werde ich die Schreie nicht vergessen, die unaufhörlich in meinen Ohren widerhallen“, schrieb der belgische Konsulatssekretär Jacobovitz über das, was er aus dem Nachbarhaus hörte. „Die Schreie hielten etwa eine Stunde lang an und verstummten dann. Darauf hörte man die einsame Stimme einer Frau, die dem Bellen eines Hunds ähnelte.“ In einer anderen Wohnung, die er betreten konnte, „lag eine ganze Familie – Vater, Mutter und ein kleines Mädchen – in einer Blutlache, die Körper schrecklich verstümmelt, die Hände durch Säbelhiebe abgetrennt.“

Die Rote Armee und die Juden

Da es auch in der Roten Armee zu antisemischen Ausschreitungen kam, starteten die Bolschewiki eine Kampagne gegen den Antisemitismus. Am 14. Mai druckte die Pravda den Artikel „Wer gegen die Juden ist, ist für den Zaren“ der Titelseite und noch im selben Monat einen Artikel über die Gefahren der Pogrome. Die Parteizeitung „Bolschewik“ war noch aktiver und brachte jede Woche Artikel gegen Antisemitismus. Gleichzeitig sammelte und veröffentlichte das Kommissariat für Nationalitäten Informationen über Pogrome und dokumentierte 120 Pogrome zwischen März und Mai mit geschätzt 15.000 Todesopfern.

„Die Bolschewiki hatten die strategische Entscheidung getroffen, antisemitische Gewalt und Sprache zu unterdrücken, um die jüdische Bevölkerung für sich zu gewinnen. Und tatsächlich brachte ihnen ihr Auftreten gegen Antisemitismus und Pogrome viele neue jüdische Anhänger, was die verbreitete Gleichsetzung von Juden und Bolschewiki noch weiter verstärkte. So schloss sich im August eine Gruppe prominenter jüdischer Bund-Aktivisten der Kommunistischen Partei an, darunter Dovid Lipez, der frühere Bürgermeister von Berdytschiv. Es waren Jeschiva-Studenten aus Proskuriv, die sich nach Petljuras Gewalttaten der Roten Armee angeschlossen hatten, um Rache zu nehmen. Ein anderer erwähnte „junge Juden, die ihre Schtetl verlassen und nur zu einem Zweck nach Kiew kommen – um sich der Roten Armee anzuschließen“. Er bezweifelte das Engagement der neuen Rekruten für die Parteiideologie, denn sie wollten lieber Märtyrer werden, als sich, in Kellern und auf Dachböden versteckt, ermorden zu lassen. „Sie sind keine Bolschewiki“, schrieb er, „sie gehen zur Roten Armee, weil man dort ‹mit einem Gewehr in der Hand sterben kann.“

Der polnisch-sowjetische Krieg

Im April 1920 stießen polnische und ukrainische Truppen von Norden auf Kiew vor und der polnisch-sowjetischen Krieg begann. Petljura war ein Bündnis mit Piłsudski eingegangen, bei dem Polen die ukrainische Unabhängigkeit in den Provinzen des ehemaligen Zarenreichs unterstützte, während Petljura im Gegenzug die ukrainischen Ansprüche auf Ostgalizien aufgab. Die polnische Dritte Armee eroberte Schytomyr problemlos am Morgen des 26. April. Die Polen begannen ältere Juden zu schikanieren und ihnen die Bärte abzuschneiden oder sogar auszureißen. Am 9. Mai begann das Pogrom. Der polnische Soldat Krzystyniak berichtete: „Unsere Soldaten wussten, wie jede Gelegenheit zu nutzen war, ohne Kompromisse. Wenn wir ein Dorf eroberten, konnte sich jeder selbst bedienen – in den Häusern der reichsten Dorfbewohner suchten sie hinter den Bildern an der Wand nach Geld. … Es gab in jedem Dorf viele Juden, und sie besaßen Läden aller Art mit vielen Waren … unsere Kämpfer brachen sofort alle Läden auf und stahlen, was sie konnten.“

Am 6. Mai gab die Rote Armee, die Kiew seit Dezember gehalten hatte, die Stadt auf. Am nächsten Tag besetzte die polnische Dritte Armee mit den verbündeten Soldaten der Ukrainischen Volksrepublik die Stadt. Kiew hatte zum 13. Mal in drei Jahren die Regierung gewechselt. Die polnischen Soldaten attackierten sofort die Juden in der Stadt und demütigten sie öffentlich, um ihre Dominanz zu zeigen. Im Bezirk Demijivka am Stadtrand von Kiew drangen sie in die Synagoge ein und verbrannten die heiligen Bücher. Sie zwangen die Juden zu tanzen, zu singen, sich im Kreis zu drehen oder niederzuknien, während Gruppen von Soldaten sich darüber amüsierten.“ Polnische Soldaten drangen in ihre Häuser ein um Geld und Wertsachen zu raubten oder sie zu verprügelten. Am 10. Juni drang eine polnische Patrouille während des Abendgebets in die Kaufmannssynagoge in der Malaja-Vasilkovskaja-Straße ein und begann auf die Gläubigen zu schießen und so flohen tausende Juden aus Kiew auf das Territorium der Bolschewiki im Osten.

Am 10. Juni trieben polnische Soldaten Dutzende von Juden auf dem Platz zusammen und eröffneten das Feuer. 30 Menschen starben. Am Samstagvormittag, als sich herumsprach, dass die Roten Kiew zurückerobert hatten, gerieten polnische Soldaten in Panik und zündeten mehrere jüdische Häuser an, wobei acht weitere Menschen starben. Insgesamt wurden in vier Tagen über 60 Juden in Schytomyr von den Polen getötet.

Im August 1920 setzte sich Adolph Joffe, der schon die erste Verhandlungsrunde in Brest-Litovsk für die Bolschewiki geführt hatte, erneut an den Verhandlungstisch. Die Polen, die Petljura versprochen hatten, keinen Sonderfrieden zu schließen, brachen die Vereinbarung und beendeten damit den ukrainischen Traum von der Unabhängigkeit. Petljura verließ Polen entmutigt, verbrachte die nächsten Jahre in Budapest, Wien und Genf und ging 1924 nach Paris.

Flüchtlinge

Der Friede von Riga beendete die Hauptkampfhandlungen, aber neue Spannungen entstanden, als hunderttausende jüdische Flüchtlinge in die europäischen Hauptstädte kamen. Nahrungsreserven und Getreide wurde nach Russland transportiert, die daraus folgende Unterernährung trug zur Ausbreitung von Typhus und Scharlach bei und führte zum Tod von mindestens 250.000 Menschen. Als 1926 die erste sowjetische Volkszählung durchgeführt wurde, lebten ganze 42 Prozent der 1,5 Millionen Juden in der Ukraine nicht mehr in ihrem Geburtsort. Zwischen 1917 und 1923 sank der Anteil der jüdischen Bevölkerung der späteren Sowjetukraine um etwa 35 Prozent von 2,3 auf 1,5 Millionen. Viele Juden gingen nach Russland, wo die jüdische Bevölkerung zwischen den Volkszählungen von 1897 und 1923 um über 75 Prozent anschwoll. Die jüdische Bevölkerung Moskaus verelffachte sich von 8000 auf 88.000. In den Städten fanden viele Juden Arbeit als Ladenbesitzer, Handwerker und Kaufleute, wie schon in der Ukraine, oder wurden Unternehmer, sie profitierten von der Neuen Ökonomischen Politik, als der Staat sich vom strengen „Kriegskommunismus“ zurückzog. Juden nahmen oftmals Beamtenposten an, so arbeiteten 1923 44 Prozent aller Juden in Moskau für die staatliche Bürokratie. Juden spielten eine sichtbare und überproportional große Rolle in der jungen Sowjetregierung.

Schätzungsweise 600.000 Juden flohen neben den fast zwei Millionen Soldaten und Aktivisten der Weißen, russischen Adligen und Angehörigen der Bourgeoisie, zaristischen Beamten und anderen Gegnern des neuen Regimes nach Polen, Rumänien, Deutschland, Österreich, Frankreich. Obwohl Juden nur ein Viertel der Gesamtzahl der Flüchtlinge aus dem früheren Russischen Reich ausmachten, bewirkte die Assoziation von Juden und Bolschewiken Widerwillen, was den Aufstieg rechter Parteien in ganz Europa beförderte. Rund 20.000 jüdische Flüchtlinge lebten im heruntergekommenen Scheunenviertel in Berlin einer Viertelmillion russischsprachiger Einwanderer. Internationalistische Marxisten, zionistische Juden, russische Monarchisten und ukrainische Nationalisten gingen auf denselben Straßen. Die jüdischen Flüchtlinge wurden in Deutschland vielfach kollektiv für die Verbrechen der Bolschewiki verantwortlich gemacht und ihnen allen wurde unterstellt sie wollten den Bolschewismus nach Europa bringen. Gespeist wurde dieser Vorwurf wegen prominenten Juden in der Politik: Adolph Joffe, der die Delegation der Bolschewiki in Brest-Litovsk und Riga geleitet hatte, wurde erster sowjetischer Botschafter in Berlin. Maxim Litvinov war sowjetischer Vertreter in London. Grigori Sinowjew leitete die Kommunistische Internationale und Trotzki war das internationale Gesicht der Revolution. Karl Radek, Rosa Luxemburg, Kurt Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller und Kurt Eisner waren die Köpfe der revolutionären Linken im Deutschland dieser Zeit.

Die Pogrome aus der Sicht der Sowjetunion

1923 gab es eine Ausstellung der Bolschewiki über die Pogrome, die später als Buch erschien und die Leser daran erinnerte, wie die Rote Armee die Juden vor der Vernichtung bewahrt habe. In ihrer Anfangszeit kämpfte die Führung der Sowjetunion noch gegen den Antisemitismus, den sie als konterrevolutionäre Waffe reaktionärer Eliten darstellte, und versuchte Juden durch jiddisch-sprachige Schulen, Theater, Literatur und Filme zu gewinnen. Kiew wurde zu einem Zentrum jiddischen Lebens. Im wirtschaftlichen Bereich fanden viele jüdische Handwerker, deren Heimarbeit vom Staat missbilligt wurde, Arbeit in den wachsenden Fabrikenoder in der Sowjetbürokratie. Die jüdische Integration war ein Eckpfeiler der Sowjetpolitik in der Ukraine, die mit Stalin jäh enden sollte.

Der Schwarzbard-Prozess

Die Aufmerksamkeit der Welt wandte sich den Massakern in der Ukraine zu, die Beweise für die Gewalttaten in der Region waren unwiderlegbar. Das jiddischsprachige Morgen Zhurnal schrieb im Leitartikel von einer halben Million Pogromopfer in der Ukraine. Die Federation of Ukrainian Jews in America, berichtete sechs Millionen Juden seien in Gefahr.

1926 ging der jiddische Dichter und Uhrmacher Scholem Schwarzbard mit einer Pistole in der Tasche durch die Straßen des Pariser Quartier Latin. In der Hand hielt er ein Foto von Petljura, dem Mörder seiner ganzen Familie. Schließlich stieß Schwarzbard am 25. Mai auf Petljura, der allein in den Neuerscheinungen vor der Buchhandlung Joseph Gibert an der Ecke Rue Racine und Boulevard St. Michel stöberte und erschoss ihn. Dann wartete Schwarzbard auf die Polizei und sagte: „Ich habe einen großen Mörder getötet“.

Als er vom Sturz des Zaren hörte, kehrte Schwarzbard im Sommer 1917 in die Ukraine zurück, um das Chaos des Bürgerkriegs mitzuerleben. Er war Mitglied verschiedener Kampfbrigaden und kam schließlich ins französisch besetzte Odessa. Schwarzbard schloss sich den Bolschewiki an und fuhr mit einer Brigade in die von Pogromen verwüstete Region um Tscherkasy. Schwarzbards Racheakt brachte ihn auf die Titelseiten der Zeitungen und lenkte neue internationale Aufmerksamkeit auf die Pogrome. Ein großer Teil der jüdischen Gemeinschaft sah Schwarzbards Tat als vertretbar an. Die Exilukrainer standen geschlossen hinter ihrem Führer und sammelten hunderte Aussagen, um die Ehre ihres Anführers beim Prozess zu verteidigen. So meinte ein Mitglied der Zentralna Rada, die Gewalt sei bloß Vergeltung für jüdisch-bolschewistische Unterdrückung gewesen: „Man muss darauf hinweisen, dass die Mehrheit der bolschewistischen Kommissare, die gegen die ukrainischen Behörden und das Militär agitierten, Aufstände entfachten und Festnahmen durchführten, Juden waren.“ Es sei daher nur natürlich, „dass die ukrainische Armee ihren Unmut an denen ausließ, die sie als schuldig ansah: den Juden der Ukraine“. Im Gegensatz dazu bezeugten jüdische Mitglieder von Schwarzbards Verteidigungskomitee, die Pogrome waren bewusste Maßnahmen der Petljura-Regierung, die durch alten Judenhass motiviert gewesen seien.

Schwarzbard nutzte die eineinhalbjährige Untersuchungshaft im Gefängnis La Santé, um sein Handeln vor der Welt zu verteidigen. In der jiddischsprachigen Zeitung Di fraye arbaytershtimme, die in New York erschien, sinnierte er: „Ich bin nun überzeugt, dass man, bevor die ganze Menschheit emanzipiert werden kann, sich erst selbst befreien und das jüdische Volk von all der Unterdrückung und den Verleumdungen befreien muss, die dieses Volk nie verschonen, das von allen verlassen und überall unterdrückt ist.“ Der Prozess endete am 26. Oktober mit dem Freispruch Schwarzbards in allen Punkten nach nur 32-minütiger Beratung der Geschworenen. Petljura war und ist immer noch der Held für Ukrainer und für Juden ein archetypischer Verbrecher, ein Vorläufer Hitlers, wie manche später sagten.

Das Erbe der Pogrome

Das Ziel der Pogrombewegung von 1918 bis 1921 war die Vertreibung aller Juden aus der Ukraine. Der Mord an über 100.000 Juden und die völlige Vertreibung der Juden aus einzelnen Städten nährten die Idee, sie könnten eines Tages ohne Ausnahme vernichtet werden. Die Pogrome von 1918 bis 1921 können bei der Erklärung helfen, wie jene nächste Welle antijüdischer Gewalt möglich wurde. Ist es ein Zufall, dass der Holocaust in derselben Region begann? Ein Drittel der Opfer des Holocaust wurde in der Nähe ihrer Häuser ermordet. Die Ermordung der Juden in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion war vor allem von Feindschaft gegen den Bolschewismus und seiner vermeintlichen Prominenz von Juden angetrieben. Das Erbe der Pogrome von 1918-1921 offenbarte sich mit dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion. Hitler, die NSDAP und die Organisation Ukrainischer Nationalisten unter Stephan Bandera sprachen wie vor wenigen Jahren Symon Petljura, Anton Denikin vom jüdischen Bolschewismus, der zu liquidieren sei. Ausgerüstet mit der NS-Rassenideologie, mit faschistischer Gewalt und dem Mythos des Judäo-Bolschewismus verwirklichte NS-Deutschland mit seinen ukrainischen Verbündeten von 1941 bis 1945 seine genozidalen Ambitionen. Symon Petljura, Anton Denikin und vor allem Stepan Bandera werden heute in der Westukraine als Nationalhelden vergöttert und die deutschen Politiker und Journalisten wollen nichts davon hören. Die Rechtfertigungsversuche, die Gedächtnisschwäche oder die Relativierungen bezüglich der antisemitischen Massenmorde haben sich seit nun über einhundert Jahren in ihrer Rhetorik kaum verändert.

Quelle: Jeffrey Veidlinger – Mitten im zivilisierten Europa – Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust, C.H.Beck-Verlag, 2022, 456 Seiten, 34 Euro

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