„Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“, brüllte Hitler am 1. September 1939. Einen Tag zuvor zogen SS-Leute polnische Uniformen an und machten einen Scheinangriff auf den deutschen Radiosender „Gleiwitz“ an der polnischen Grenze, wo sie Menschen erschossen. Die Goebbels-Presse verkündete darauf, polnische Soldaten hätten auf deutschem Boden einen Überfall gemacht. Hitler griff darauf Polen an, nachdem die Appeasement-Politik der Großmächte gescheitert war.

Als ich gerade im Autoradio die Meldung hörte, für den türkischen Staatschef Erdogan, der mich schon immer etwas an Hitler erinnert hat, stünden die Täter des Anschlags von Ankara fest, musste ich sofort an den Vorwand denken, mit dem das Dritte Reich Polen überfiel. Das Blut der Toten von Ankara ist noch nicht einmal getrocknet, da sind angeblich bereits die Attentäter ermittelt: Anhänger der syrischen Kurdenmiliz YPG.

Natürlich ist das mit der Wahrheit immer so eine Sache. Sie stirbt in einem Krieg bekanntlich zuerst. Das ist bereits bei einem einfachen Familienkrach so. Hier geht es allerdings um knallharte Machtpolitik. Erdogan träumt von einer Neuauflage eines islamistischen osmanischen Großreichs. Er hat bereits mehrfach gezeigt, dass ihm Menschenleben nichts bedeuten: er unterstützt den mörderischen IS, der für Terror und Tote weltweit verantwortlich ist und einen Völkermord an den Yesiden begangen hat. Zudem lässt er Oppositionelle verfolgen und ihm unliebsame Journalisten wegsperren. Die Grundfrage muss lauten: Cui bono - wem nützt es?

Nützt der Anschlag der PYD, ihrer Miliz (YPG) oder der PKK? Sehr unwahrscheinlich. Sie haben mit dem IS genug zu tun, deren einziger ernsthafter Gegner sie sind. So konnten sie einen weiteren Völkermord an Yesiden und Orientchristen verhindern. Viele Menschen dieser verfolgten Gruppen schlossen sich den Anti-IS-Einheiten an. Das internationale Ansehen der YPG stieg rapide. Es gibt Initiativen, sogar die PKK von der Terrorliste zu nehmen. Warum sollte sich die PYD, der politische Arm der YPG, dieses Ansehen kaputt machen? Selbiges gilt für die PKK. Zudem ist ein solcher Anschlag, den der PYD-Vorsitzende Salih Muslim auch prompt dementierte, für die Partei bzw. deren Milizen unüblich. Zumal kurdische Gruppen sich in der Vergangenheit stets zu Anschlägen bekannt haben.

War es der IS? Unwahrscheinlich. ISIS-Terroristen haben in der Türkei bisher nur Ausländer und Oppositionelle getötet. Der türkische Geheimdienst MIT unterstützt zudem den IS im Kampf gegen die Kurden. Der Chef der türkischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, hat das bewiesen und sitzt seitdem in Haft. Der IS braucht die Türkei im Kampf gegen die Kurden. Warum sollten die Terroristen die Hand wegschlagen, die sie füttert?

Erdogantreue innertürkische Kräfte hätten dagegen ein Motiv. Dem türkischen Staatschef sind die Kurdengebiete im Norden Syriens ein Dorn im Auge. Seine Bombardements der letzten Wochen ernteten scharfe internationale Kritik. Der AKP-Chef hätte jetzt einen Grund, in die kurdischen Gebiete in Syrien einzufallen. Dieses Motiv wird in den deutschen Medien gar nicht erst diskutiert. Von der deutschen Bundesregierung hört man ebenfalls nichts Kritisches über Erdogan, weil man ihn als Partner in der Flüchtlingskrise braucht und sich damit von ihm abhängig - ja, sogar erpressbar - gemacht hat.

Jeder Krieg bringt neues Leid und neue Flüchtlinge. Mit neuen Flüchtlingsströmen könnte Erdogan die EU weiter erpressen und gleichzeitig seine Macht weiter ausdehnen. Sogar Russland hätte ein Interesse an einer von Flüchtlingen geschwächten und zerstrittenen EU. Man darf gar nicht weiter nachdenken, denn wie gesagt: die Wahrheit kennt keiner – erst Recht nicht im Krieg und tausende Kilometer entfernt. Aber der Krieg klopft an unsere Türen. Ich traue dem Möchtegern-Kalifen im Gegensatz zu unserer Regierung keinen Millimeter über den Weg. Mit Diktatoren kann man nicht reden, weil ihnen Menschenleben egal sind. Bei ihnen wird nur geschossen. Bei Erdogan nicht erst seit 5.45 Uhr...

Markus Hibbeler

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