In Erinnerung an Helmut Schmidt - Der alte Mann und das Bevölkerungswachstum

oder

"Warum zurzeit alle Wege führen nach Europa führen" (Stephen Smith)

Am 23. Dezember 2018 wäre der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt 100 Jahre alt geworden. Ich gebe zu, dass ich ihm während seiner Amtszeit viel Widerstand entgegen gebracht habe; mir schien er zuallererst als Verräter der politischen Ideale seines Vorgängers Willy Brandt. Sein Pragmatismus schien mir dazu angetan, die politische Euphorie der 1970er Jahre den erstarkenden globalen Marktkräften zu opfern und damit die bis heute andauernde Phase eines globalen Neoliberalismus einzuläuten. Seine Amtszeit war geprägt durch schwierige Entscheidungen, er war gefordert bei der RAF-Bekämpfung im „Deutschen Herbst“, der Forcierung der Kernkraft oder der Durchsetzung des umstrittenen NATO-Doppelbeschlusses zur Aufstellung von atomaren Mittelstreckenraketen. Als er 1982 über eine Spionage-Affäre stolperte, eröffnete er einen politischen Raum, der die Gründung der grünen Bewegung begünstigen sollte.

Noch lange nach seinem Ausscheiden aus allen politischen Ämtern meldete sich Schmidt mit seiner allzeit entzündeten Menthol-Zigarette in diversen Diskussionsformaten. Zentrale Botschaft war ihm das historisch beispiellose Wachstum der Weltbevölkerung und die damit verbundenen unberechenbaren politischen Folgen. Er gerierte sich dabei weitgehend als einsamer Rufer in der Wüste wenn zwar immer wieder das Gespenst einer ungezügelten „Population Bomb“ beschworen wurde, die allfälligen Konsequenzen in den politischen Machtverhältnissen dabei aber weitgehend undiskutiert blieben. Und mit dem Zwang zur Ein-Kind-Familie in China – der erst Ende 2015 aufgehoben wurde - schien das globale Bevölkerungswachstum ein für alle Mal gebannt, konnte aus den Medien verschwinden und durch das Stichwort „Klimakatastrophe“ ersetzt werden.

Die industrielle Revolution in Europa als Motor des globalen Bevölkerungswachstums.

Historisch gesehen handelt es sich beim „Bevölkerungswachstum“ als spätem Lebensthema von Helmut Schmidt um ein vergleichsweise ganz junges Phänomen, das als unmittelbare Begleiterscheinung der industriellen Revolution gedeutet werden muss. Den Anfang machte einmal mehr Europa, dessen Bevölkerungszuwächse rund um 1800 erstmals die Einmilliardengrenze der Weltbevölkerung überschreiten ließ. Danach brauchte es nochmals weiterer 130 Jahre, bis sie die zweite Milliarde erreichte, dann aber nur mehr 30 Jahre bis zur dritten; seither hat die Weltbevölkerung drei weitere riesige Schritte getan, um sieben Milliarden zu erreichen; schon in den allernächsten Jahren werden „wir“ acht Milliarden sein, 2050 könnte mit 10 Milliarden ein vorläufiger Höchststand erreicht werden.

Vieles spricht dafür, dass die Menschheit trotz dieser rasanten Prognosen bereits in den 1960er Jahren den Zenit ihrer Fruchtbarkeit erreicht hat. Seit damals nimmt das jährliche Wachstum prozentual wieder ab: von damals 2,1 % auf 1,15 % im Jahr 2009. Seit Ende der 1980er-Jahre nimmt das jährliche Weltbevölkerungswachstum auch in absoluten Zahlen ab. Das führt dazu, dass in immer mehr Ländern mittlerweile ein Bevölkerungsrückgang stattfindet. Sie sind konfrontiert mit einem „Paradox des Wohlstands“ wonach Menschen, denen es gelungen ist, unmittelbarer existentieller Not zu entkommen, immer weniger Kinder in die Welt setzen.

Die schiere Vermehrung ist das eine, die Erhöhung der Lebenserwartung das andere.

Was in der Diskussion zur politischen Einschätzung dieser „wundersamen Zahlenvermehrung“ gerne unterbelichtet bleibt sind damit verbundene Begleitphänomene, allen voran der Zugewinn an Lebensalter, der den Daten zusätzliche Brisanz verleiht: um 1900 lag die Lebenserwartung von Neugeborenen in Europa und Nordamerika bei 47 Jahren; ein halbes Jahrhundert später war sie auf rund 70 Jahre angestiegen, ein Alter, das mittlerweile dem weltweiten Durchschnitt ausmacht. Die so entstandenen älteren Kohorten sind mobiler, aktiver und imstande, sich kreativ zu entfalten; ein Umstand, der das Verhältnis der Generationen untereinander nachhaltig verändert.

Bei all diesen Entwicklungen stellt Afrika eine die große Ausnahme dar: Zur Zeit des großen Sklavenhandels machte die dortige Bevölkerung mit rund 100 Millionen Einwohner*innen ein Fünftel der Weltbevölkerung aus. Und noch 1930 zählte der Kontinent gerade einmal 150 Millionen, in der Phase der Unabhängigkeitserklärungen ab den 1960er Jahren waren es bereits 300 Millionen, 1989 dann 600 Millionen und 2010 sollte die Milliardengrenze erreicht werden. Und diese Entwicklung wird weitergehen. Vor allem für das Gebiet südlich der Sahara ist von einem ungebrochenen Wachstum um 2,5 bis 3 % bis 2050 auszugehen. Was das konkret bedeutet, kann an einem fiktiven Ländervergleich erläutert werden: Zwischen 1900 und 2017 ist die Bevölkerung von Simbabwe von 700.000 auf 16 Millionen hochgeschossen; wäre die Bevölkerung von Großbritannien im selben Tempo gewachsen, gäbe es dort inzwischen statt der derzeit 66 Millionen mehr als 900 Millionen Einwohner*innen (und damit fest die doppelte Zahl in ganz Europa).

Die Afrikaner*innen werden mehr – und sie werden jünger.

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass von den 10 Milliarden Erdenbewohner*innen im Jahr 2050 - sowie im Jahr 1800 - 20 % Afrikaner*innen sein werden, so könnte sich dieser Anteil bereits 2100 auf rund 40% erhöhen. Und noch etwas gilt es in diesem Zahlenspiel zu berücksichtigen: Rund 60 % aller Menschen auf der Welt unter 15 Jahren werden dann südlich der Sahara leben – eine solide Mehrheit der Jugend der Welt.

Auf diesen Umstand hat zuletzt der US-amerikanische Autor mit europäischen Wurzeln Stephen Smith mit seinem Buch „Nach Europa!“ in besonderer Weise aufmerksam gemacht. Er hat viele Jahre als Journalist in Afrika zugebracht und sich ein differenziertes Bild von den Lebensverhältnissen gemacht. Angesichts der nackten demographischen Tatsachen kommt er zu dem unabweisbaren Schluss, dass „jede Antwort auf das afrikanische Bevölkerungswachstum früher oder später nach Europa“ führen würde. Die Aufregung seit her ist groß und hat etwa die neu gegründete Zeitschrift „Addendum“ ermutigt, ihre erste Ausgabe mit der Überschrift „Afrika nach Europa“ zu versehen.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der unabweisbare Umstand, dass „Afrika“ in differenzierter Weise nicht in der europäischen bzw. US-amerikanischen Öffentlichkeit angekommen ist. Hin und her gerissen von vagen Vorstellungen eines depravierten Armenhauses, in dem Aids, Krieg und Hunger dominieren einerseits und einer kulturell inspirierten Zukunftseuphorie andererseits müssen die meisten von uns schlicht und einfach zugeben, dass sie von diesem riesigen Kontinent vor der Haustür Europas nahezu nichts wissen und sich daher ihr Afrika anhand einiger weniger Meldungen zurechtmystifizieren. Die verhängnisvollen Folgen zeigen sich in diesen Tagen – etwa anhand des jüngst veranstalteten Afrika Forums in Wien – in allen Varianten der kollektiven Vorurteilsbildung, vor der selbst wichtige politische Entscheidungsträger*innen nicht Halt machen.

Smith verdeutlicht die Notwendigkeit, genauer hinzuschauen am Beispiel von Lagos in Nigeria. Eine Stadt, die wie viele andere afrikanische Metropolen rapide wächst (seit 1960 um das Sechzigfache!) und zugleich immer jünger wird. Bereits 1972 waren 78 % ihrer Bewohner*innen jünger als 30 Jahre, in den ausgedehnten Slums beträgt ihr Anteil heute 95%. Die Jungen – so Smith – seien dort weitgehend unter sich; sie seien kulturell weitgehend unfixiert, erfänden neue Werte und Normen, die zu ihrer Lage passen und das Überleben sichern. Die Reichen hingegen würden sich in futuristische Offshore-Quartiere zurückziehen, um dort einem luxurierten Lebensstil zu frönen, nach dem sich die meisten Europäer*innen bestenfalls neidvoll sehnen können.

In Afrika geschieht also vieles gleichzeitig, das traditionelle Entwicklungsparadigma eignet sich also nur sehr beschränkt, um der Komplexität dessen, was Afrika ausmacht, auch nur halbwegs zu entsprechen. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die immer schon gewusst haben, dass Entwicklungshilfe nichts taugt und Josef Urschitz in der Presse spricht vom „teuersten Fehlschlag der Geschichte“ schreiben lassen (für die Afrikaner*innen hat sich wahrscheinlich die Phase der Sklaverei, an der zumindest 20 Millionen Menschen auf ihrem Weg in die „Neue Welt“ elend zugrunde gegangen sind, als noch teurer erwiesne).

Wenn aber im Rahmen des Afrika-Forums ein Paradigmen-Wechsel im Umgang zwischen Europa und Afrika eingefordert wird, der sich vorrangig an der Nachfrage nach wirtschaftlichen Investitionen aus Europa orientiert, um auf diese Weise den Kontinent nicht den Chinesen zu überlassen , dann macht Smith klar, dass eine von außen induzierte Wirtschaftsstimulierung nicht ausreichen wird, die Zukunftsperspektiven eines brodelnden Weltteils voller junger Menschen nachhaltig zu verbessern: Am Beispiel Malis weist der Autor nach, dass bei einer Geburtenrate von drei Prozent die Wirtschaft Malis jährlich um rund 7 Prozent über die nächsten 18 Jahre zulegen müsste, um das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu verdoppeln. Und selbst wenn das gelänge, würde die Wirtschaft Malis, wo das BIP pro Kopf 2015 bei 695 Dollar lag, mehr als ein Jahrhundert brauchen, um auf das derzeitige Niveau Frankreichs zu kommen (44 000 Dollar). Das aber bedeutet, dass es jedenfalls aus ökonomischer Sicht kein realistisches Szenario gibt, um Afrika zum Rest der Welt aufschließen zu lassen. Schon jetzt sind es einige wenige Schlüsselländer wie Südafrika, Nigeria, Kenia, die Elfenbeinküste und der Sudan, die all das produzieren, was in Afrika hergestellt wird und dass daran wird kein noch so ambitionierter Investitionsplan etwas ändern können.

Sind gute Wirtschaftsnachrichten aus Afrika schlechte Migrationsnachrichten für Europa?

Wenn aber eine durchgehende Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht gelingen kann, um auf diese Weise – und das ist der springende Punkt – das Wirtschaftsgefüge in Bezug auf Bereitstellung von Ausbildung, Arbeitsplätze, Absatzmärkte,… an die laufende demographische Entwicklung anzupassen dann werden sich die Lebensverhältnisse von immer mehr Menschen weiter verschlechtern. Also werden sie zu wandern beginnen, um woanders zu überleben: Zuerst vom Land in die Stadt bzw. in einen der Slums, dann von einem afrikanischen Land ins andere und schließlich von einem afrikanischen Land in ein außerafrikanisches. Und dann ist da noch eine Pervertierung einer ökonomischen Rationalität, wonach die lokale oder regionale Verbesserung von Wirtschaftsdaten die Bereitschaft, den Ursprungsort zu verlassen, in dem Maß sogar noch erhöhen lassen wird, in dem die erwirtschafteten Mittel dafür eingesetzt werden, das Glück woanders sein zu versuchen.

Derzeit gehen noch 70 % aller Migranten von einem afrikanischen in ein anderes afrikanisches Land (vor 30 Jahren waren es noch 90%). Und schon beginnen einzelne afrikanische Staaten wie Südafrika gegenüber ihren Nachbarländern abzuschotten. Und doch werden junge Afrikaner*innen ohne hinreichende Lebensgrundlagen nicht aufhören, sie zu fragen, ob sie bleiben oder weggehen sollen. Angesichts der erwartbaren Vergrößerung ihrer Zahl von 1,3 auf 2,5 Milliarden im Jahr 2050 wird die Frage des Ob weitgehend von der Frage nach dem Wohin abgelöst worden sein: Bei der Beantwortung sind migrationsbereite Afrikaner*innen auf den Umstand verwiesen, dass Europa einfach nahe und auf Grund der kolonialen Verwicklungen zumindest vage vertraut erscheint. Gleichzeitig macht Europa als alternder Kontinent gerade noch einmal 7 % der Weltbevölkerung aus. Bleibt ein weiterer Anreiz: Europa gibt die Hälfte dessen aus, was weltweit an Sozialleistungen vergeben wird.

Mare Nostrum – ein Meer, das zwischen Menschen ver-mittelt

Wir erleben in diesen Tagen hautnah, wie sich Europa in defensiver Weise auf die kommenden Wanderungsbewegungen vorbereitet. Vergessen die Idee eines gemeinsamen „Mare Nostrum“ und damit eines gemeinsamen Lebens- und Kulturraums an den Gestaden eines zwischen den Kontinenten ver-mittelnden Meeres; statt dessen rüsten sich die Nationalist*innen aller europäischen Länder für den möglichst hermetischen Festungsbau, um dem unvermeidlichen Ansturm (als späte Retourkutsche des europäischen Ansturms auf Afrika vor 150 Jahren) eines aus dem demographischen Ruder laufenden Kontinentes gewachsen zu sein.

Weil Smith davon überzeugt ist, dass sich diese Wanderungsbewegungen durch materielle, ja selbst militärische Mittel nicht zum Stillstand gebracht werden können, durchdenkt er neben den aktuellen Strategien zur weiteren Befestigung Europas verschiedene weitere Szenarien, die von einer Afrikanisierung Europas („Schmelztiegel Europa“) über eine „Mafia Drift“ zur „Rückkehr von Protektoratsstrukturen“ und dem „Durchwurschtel-Szenario“ (das er für am aussichtsreichsten hält) reichen.

Gleichzeitig erinnert er die Europäer*innen darin, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass in Ermangelung hinreichender Lebensgrundlagen 60 Millionen Europäer*innen ausgewandert sind, 43 Millionen davon in die Vereinigten Staaten. Der Rest der Welt habe dies nicht als eine „Invasion“ gesehen: „Das aber heißt, dass Afrikaner heute nur das tun, was andere, und im Besonderen die Europäer, vorher getan haben. Das macht es nicht besser oder schlechter. Es ist einfach anders weil sich die Umstände geändert haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es 2 Milliarden Menschen, bald werden es 8 Milliarden sein. Die Welt ist enger geworden. Wir müssen uns diesen Tatsachen stellen.“

Wie immer die weitere Entwicklung verläuft, am schieren Umstand einer dramatischen Ausweitung einer jugendlichen afrikanischen Bevölkerung werden europäische politische Initiativen gegenüber Afrika nicht herumkommen. Und damit auch nicht am Umstand, dass diese in Richtung Europa aufbrechen wird. Helmut Schmidt folgend spricht vieles dafür, dass sich in erster Linie besonders motivierte junge Menschen auf die Reise machen werden, die bereit sind, für ein besseres Leben zu kämpfen (und über die dafür notwendige Persönlichkeitsausstattung verfügen). Und diese werden eine - im positiven ebenso wie im negativen - dynamische Kraft im Zuge der weiteren Entwicklung Europas – das ansonsten bereits für am Ende erklärt worden ist – darstellen.

Mehr Menschen bedingen eine andere Kultur.

Inhaltich wird sich nicht nur Europa gezwungen sehen, seine dominanten Kulturvorstellungen, die die derzeitige strikte kontinentale Aufteile als quasi naturgegeben zu legitimieren trachten, auf dem Prüfstand zu stellen. Immerhin spricht alles dafür, dass eine Welt, in der eine Milliarde Menschen gelebt haben und in der sich Europa als Maß aller Dinge begreifen konnte, ein anders kulturelles Selbstverständnis entwickeln konnte als eine solche, in der acht Milliarden leben und sich die kontinentalen Einflüsse nachhaltig verändern. Das kann –im Fall des Gelingens – zu einer neuen Qualität des Zusammenlebens führen.

Besonders zu berücksichtigen ist dabei wohl der starke religiöse Einfluss, unter den vor allem die am stärksten wachsenden Teile Afrikas im Gebiet der Sub-Sahara gekommen sind. Das sich dabei nicht nur um islamisch-fundamentalistische sondern in zumindest gleichem Ausmaß um aus Europa stammende christliche Strömungen handelt, könnte uns zu denken geben. In diesen Kontext gehört auch eine neue Heftigkeit des Generationenkonflikts, wenn in den meisten afrikanischen Ländern alte männliche Eliten au brutale Art ihre Pfründe verteidigen und damit immer mehr jungen Menschen, allen voran jungen Frauen den Weg in eine bessere Zukunft versperren. Dass diese Nomenklaturen keinerlei Interesse an einer Verbesserung der demokratischen Entscheidungsfindung haben, die ihre Privilegien in Frage stellen könnten, versteht sich fast schon von selbst.

Umgekehrt sind es gerade die Jungen, die sich von den digitalen, nationale ebenso wie kontinentale Grenzen sprengende Medien in besonderer Weise angesprochen fühlen. Mit deren Hilfe erfahren sie einen Zugang zu der einen großen Welt, deren Vorstellungen über die Enge ihrer eigenen unbefriedigenden Lebensverhältnisse hinausweisen. Beide Phänomene – Infragestellung der Herrschaft der Alten und der digitale Blick auf die eineWelt - tragen dazu bei, die überkommenen kulturellen Traditionen zumindest soweit zu relativieren, dass bei immer mehr jungen Afrikaner*innen ein völliger Ausstieg denkbar, ja wünschbar erscheint. Der weitere Weg dahin ist freilich mühsam und gefährlich: 60 000 Ertrunkene (das bedeutet jeder 18te, der sich auf den Weg macht) im Mittelmeer in den letzten Jahren zeugen davon.

Eine europäische Bevölkerung, die glaubt, dass eine solche Dynamik keine Auswirkungen auf das eigene kulturelle Selbstverständnis haben, wird sich bestenfalls mit dem Status eines „Weltmuseums“ zufrieden geben müssen.

Migrationsströme bedürfen der politischen Lenkung – dafür aber müssen zuerst die Tatsachen erhoben und berücksichtigt werden.

Am Ende seiner Überlegungen kommt Smith zum Schluss, dass Migrationsströme keine Naturereignisse darstellen, die einfach passieren. Sie wollen durchaus politisch gesteuert werden, um die damit zu erwartenden politischen Konflikte auch nur halbwegs handeln zu können. Dass diesbezügliche Strategien lange Zeit vermieden worden sind und jetzt eine orientierungslose Bevölkerung auf das Fehlen klar nachvollziehbarer Vorgaben mit verzweifelten Haltegriffen in der Vergangenheit („Renationalisierung“) reagiert, ist nachvollziehbar. Und doch gibt es am Ende nur eine Vorwärtsstrategie, die bereit ist, den von Smith aufgezeigten Fakten in einer Weise Rechnung zu tragen, die es sich zum Ziel setzen, Europäer*innen und Afrikaner*innen zu guten Nachbarn zu machen, die sich etwas zu sagen haben und sich gegenseitig austauschen können und wollen.

Dazu müssen Europäer*innen zuallererst mehr von Afrika wissen (auf Grund der Kolonialgeschichte, die bis heute in afrikanischen Schulbüchern nachwirkt, ist davon auszugehen, dass durchschnittliche Afrikaner*innen mehr von Europa wissen als umgekehrt). Hilfreich wäre wohl auch die Bereitschaft, Wanderung in die andere Richtung zu denken und auf diese Weise Europäer*innen zu motivieren, nicht nur einige wenige abgeschottete Urlaubsdestinationen aufzusuchen sondern sich auf eine persönliche Entdeckungsreise in einem weithin unbekannten Kontinent zu machen. Dafür könnte sich auch die Europäische Union einsetzen, wenn sie das so erfolgreiche Erasmus-Programm für Schüler*innen und Studierende auf Afrika ausdehnen wollte, um so dringend notwendige persönliche Erfahrungen mit Menschen auf der anderen Seite des Mittelmeeres zu ermöglichen.

Das alles wird nicht ausreichen. Junge Menschen aus Afrika werden vermehrt nach Europa strömen. Und sie werden zum Teil heftige Konflikte auslösen (siehe dazu etwa: Aladin El-Mafaalani „Das Integrationsparadox - Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ ): Sie werden aber auch dazu beitragen, dass Europa in einer Welt, die sich in den letzten hundert Jahren sowohl quantitativ als auch qualitativ fundamental geändert hat, weiterhin eine ebenso verbindende wie dynamische Rolle zu spielen vermag.

Weil ansonsten einem abgeschotteten, immer älter und kleiner werdenden Europa das wieder drohen könnte, was vor hundert Jahren Gang und Gäbe war: dass Millionen Menschen hier keine Lebensgrundlagen mehr gefunden und sich auf Wanderschaft begeben haben.

P.S.: Zur Erinnerung Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika

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