Über das „eherne Gehäuse“ (Max Weber) der Schule und Warum trotzdem an kultureller Schulentwicklung kein Weg vorbeiführt

2009 ist der Sammelband „Handbuch Schule. Theorie – Organisation – Entwicklung“ (http://www.erziehungswissenschaft.uni-tuebingen.de/abteilungen/schulpaedagogik/personal/bohl-thorsten-prof-dr/publikationen/handbuch-schule-theorie-organisation-entwicklung.html) herausgekommen. Darin findet sich u.a. ein von Sigrid Blömeke und Bardo Herzig verfasster Beitrag mit dem Titel „Schule als gestaltete und zu gestaltende Institution“ (https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/institut/abteilungen/didaktik/data/aufsaetze/bloemeke-herzig_schultheorien.pdf). Die Autor*innen machen darin die Leser*innen mit den wesentlichen Schultheorien vertraut. Dabei fällt auf, dass Aspekte der historisch gewachsenen Gestalt von Schule wesentlich breiteren Raum einnehmen als solche ihrer Gestaltbarkeit und damit Veränderbarkeit im Rahmen von Schulentwicklung.

Als ich mich zuletzt auf eine Tagung in Weimar zum Thema Kulturelle Bildung und Schule (http://www.lkj-thueringen.de/files/uploads/Kulturagenten/Werkstatt%20kulturelle%20Schulentw.KAP_16.+17.03.2018.pdf) vorbereitet habe, musste ich mich wohl oder übel mit der in den letzten Jahren beträchtlichen gewachsenen Reformmüdigkeit vieler Lehrer*innen auseinandersetzen. Die Gründe liegen wohl ebenso darin, dass sie diese vor allem als sinnentleerte Verschärfung der administrativen Zwänge ohne pädagogischen Mehrwert wahrnehmen wie im Umstand, dass mit der Zunahme prekärer familiärer Verhältnisse Schule von jungen Menschen als letzter verbleibender Ort der sozialen Sicherheit erfahren wird. Dessen besondere Qualität für die Schüler*innen aber liegt genau darin, sich gerade nicht permanent zu verändern sondern in seiner Beständigkeit und Verlässlichkeit, um so anhand einfach nachvollziehbarer Strukturen Vertrauen und Zuversicht in das eigene Leben zu schaffen.

Beeindruckt aber hat mich vor allem der Umstand, mit welcher Mächtigkeit sich Schule über die letzten hundert Jahre hinweg als ein „ehernes Gehäuse“ erwiesen hat, das die Bemühungen von mittlerweile ganzen Generationen an Schulreformer*innen an seinen Mauern weitgehend wirkungslos hat abprallen lassen. Das heißt nicht, dass Schule seither keine Veränderungen in Details erfahren hätte; ihre institutionelle Logik hingegen blieb bislang weitgehend unangetastet.

Schulreform findet statt – seit mehr als hundert Jahren

Diesem beeindruckenden Beharrungsvermögen möchte ich am Beispiel der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgehen. So unterschiedlich all die Strömungen waren, die damals mit Vehemenz daran gingen, dem Anspruch eine obrigkeitsstaatlichen „Lern- und Drillschule“ ein Ende zu machen, so faszinierend erscheint es heute, dass es bislang nicht wirklich gelungen ist, dem radikalen Perspektivwechsel zugunsten einer Schule, die künftig „vom Kinde aus“ gedacht werden sollte, eine hinreichende schulische Form zu geben. Da mochten Schulreformer*innen wir die schwedische Schriftstellerin Ellen Key (http://www.sueddeutsche.de/kultur/ellen-keys-zweifelhafte-erziehungslehre-wer-kinder-schlaegt-erzieht-sich-sklaven-1.1374407) bereits im Jahr 1902 noch so überzeugend das „Jahrhundert des Kindes“ (http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-jahrhundert-des-kindes-6496/1) ausrufen; alle damals diskutierte Erkenntnisse über guten Unterricht, die den Einbezug lebensweltlicher Erfahrungen der Kinder ebenso umfassen sollten wie den Anspruch auf lebensbegleitendes bzw. kompetenzorientiertes Lernen haben bis heute bestenfalls partiell Eingang in die Schule des 21. Jahrhunderts gefunden. Key selbst sprach von „vier Ecksteinen der neuen Schule“, die eine zeitgemäße Schule bestimmen sollten. Sie reichten von der Vorstellung, dass im Rahmen der besonderen Förderung individueller Anlagen nicht jedes Kind zur gleichen Zeit bzw. überhaupt das gleiche lernen müsse über die Forderung nach einer Konzentration auf gewisse Themen zu gewissen Zeitpunkten (und damit der Überwindung von zersplitterten und unzusammenhängend vermittelten Unterrichtsgegenständen) zur Motivation von möglichst selbstständigem Arbeiten während der gesamten Schulzeit (samt experimentell-kritischer Grundhaltung) und einer möglichsten Wirklichkeitsberührung während aller Schulstadien.

Die Arbeitsschule der Reformpädagog*innen als Modell für ein besseres Morgen

In Bezug auf das Thema Kulturelle Bildung bin ich bei Georg Kerschensteiner und seinem Konzept der Arbeitsschule besonders fündig geworden. Sie stellt in gewisser Weise ein Pendant zur Kulturschule von heute (https://kultur.bildung.hessen.de/kulturelle_praxis/kulturschulehessen_flyer-1.pdf) dar. Einem durchaus weiten Arbeitsbegriff verpflichtet (der mehr mit Muße (der Begriff bedeutet im Griechischen Schule) zu tun haben sollte als mit der Vorbereitung auf einer von Lohn- und Erwerbsarbeit dominierten Existenz) wollte Kerschensteiner in seinen schulischen Ambitionen vor allem auf die zentralen kindlichen Eigenschaften des sich Bewegens, Ausprobierens, Erfahrens, Bauens usw., also des produktiven Schaffen setzen.

Es fällt auf, dass reformpädagogische Bemühungen einher gingen mit einer engen Kooperation mit damals aktueller Kunstströmungen. Allen voran die Kunsterziehungsbewegung (https://de.wikipedia.org/wiki/Kunsterziehungsbewegung) veranstaltete zu Beginn des vorigen Jahrhunderts drei große Kongresse, die sich mit den Möglichkeiten einer vertieften Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur als ein zentrales, alle Themen verbindendes Unterrichtsprinzip beschäftigt haben. In Österreich erwies sich Eugenie Schwarzwald als Vorreiterin (https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Eugenie_Schwarzwald). In ihrem Bemühen, vor allem Mädchen und jungen Frauen an höherer Bildung teilhaben zu lassen, entwickelte sie ihre eigene, aus privaten Mitteln ermöglichte Schulform, in der Künstler*innen aller Genres ein und ausgingen und die Schüler*innen mit dem zeitgenössischen Kunstschaffen vertraut machten. (Deborah Holmes hat eine wunderbare Biographie über Eugenie Schwarzwald mit dem Titel Langeweile ist Gift herausgebracht. (https://www.residenzverlag.com/buch/langeweile-ist-gift).

Die damalige Schulreformer*innen wussten sich in Nachfolge von herausragenden Figuren wie Johann Heinrich Pestalozzi (https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_Pestalozzi) und seiner Forderung nach einer „Schule mit Kopf, Herz und Hand“. Ihre gemeinsame Euphorie über die Notwendigkeit einer grundlegenden Schulreform soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die unterschiedlichen Ansätze auch zu einer Reihe von Konflikten geführt haben, ja in manchen ihrer spezifisch antimodernistischen und völkischen Intentionen die politische Wende hin zu nationalistischen und faschistischen Herrschaftsformen begünstigten.

Reformpädagogik und der Beginn des Industriezeitalters

Im historischen Verlauf stellt das Aufkommen reformpädagogischer Ansprüche keinen Zufall dar. Vielmehr spricht vieles dafür, dass ihr Begründungszusammenhang im Epochenbruch der ausgehenden 19. Jahrhunderts zu suchen ist. Immerhin erfolgte damals ein umfassender Transformationsprozess, der die bislang überwiegend in der Landwirtschaft tätigen lokalen Bevölkerungen in moderne, national unterschiedene Industriegesellschaften umwandelte. In diesem Zusammenhang muss die Reformpädagogik (auch) als eine vehemente Gegenbewegung gegen diese Form der Modernisierung verstanden werden. Sie wollte Schule nicht auf ihre Rolle als Zurichtungsmaschine für die kapitalistisch getriebene industrielle Produktionsweise beschränken sondern als eine staatliche Instanz zur Durchsetzung eines umfassenden, stark kulturell konnotierten Humanitätsbegriffs etablieren. Dies machte die Schulerneuerer zu Parteigängern in einem internationalen „Kulturkampf“, in dem sich Deutschland als junge Kulturnation gegen vermeintliche Verflachungen durch Demokratisierung und Industrialisierung zu positionieren trachtete (Wolf Lepenies hat die diesbezüglichen Gegensätze in seiner Studie „Kultur und Politik“ (https://www.perlentaucher.de/buch/wolf-lepenies/kultur-und-politik.html) im Detail analysiert. Ihm zufolge stellt dieser „Kulturkampf“ eine wesentliche Ursache des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs dar). In diesem Spiel trat die Reformpädagogik ungewollt als eine antimoderne Kraft in Erscheinung, deren Vertreter*innen sich nicht ausreichend in der Lage erwiesen haben, antidemokratischen, völkischen, rassistischen und antisemitischen Vereinnahmungsversuchen durch den heraufdräuenden Nationalsozialismus wirksam entgegen zu wirken.

Und jetzt stehen wir am Ende des Industriezeitalters und somit am Anfang, ja von was?

Rund hundert Jahre später zeigen sich fast täglich mehr Evidenzen, die allesamt darauf hindeuten, dass die europäischen Gesellschaften an einen neuen Epochenbruch gelangt sind, der – wie vor hundert Jahren - drauf und dran ist, unser aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse nachhaltig zu verändern. Die damit verbundenen Herausforderungen können an dieser Stelle nur sehr kursorisch angesprochen werden und bieten doch eine Gelegenheit, Kulturelle Bildung darauf hin zu befragen, ob und wenn ja in welcher Weise sie in die Lage ist, eine neue Phase der Reformpädagogik einzuläuten und nicht nur innerhalb der Schule sondern noch einmal gesamtgesellschaftliche Wirkung zu entfalten.

Kunst kann Ängste nicht beseitigen, sie kann sie aber bannen, somit darstellen und handhabbar machen

Vor einigen Tagen fand an der Anton Bruckner Privat Universität ein Symposium mit dem Titel „verschieden gleich - gleich verschieden“ (https://www.bruckneruni.at/de/veranstaltungen/aktuelle-veranstaltungen/detail/gtn_cachedevents/Event/show/symposium-verschieden-gleich-gleich-verschieden-vielfalt-als-normalitaet-1/). Verhandelt werden sollten die möglichen Auswirkungen der aktuellen „Vielfaltsgesellschaft“ auf das Angebot universitärer Einrichtungen (einschließlich der Lehrer*innenausbildung). In einem der Vorträge wies der Religionswissenschafter Paul Zulehner auf die fast schon endemische Zunahme von Ängsten in der Gesellschaft hin. In seiner Streitschrift „Entängstigt Euch“ (http://www.patmos.de/entaengstigt-euch-p-8644.html) plädiert Zulehner dafür, die „Gesellschaft der Angst“ (Heinz Bude) (https://cms.falter.at/falter/rezensionen/buecher/?issue_id=556&item_id=9783868542844) mit neuer Zuversicht auszustatten. Dies wäre die Voraussetzung dafür, der aktuellen politischen Instrumentalisierung von diffusen Ängsten und damit verbundenen Trends zu Entsolidarisierung, Demokratieskepsis und Neuautoritarismus entgegen zu wirken.

Zulehner hat es als ein gläubiger Mensch wahrscheinlich leichter, an ein „Urvertrauen“ zu appellieren, das sich aus religiöser Vorsehung speist. Wenn sich die Reformpädagogik seit ihrem Beginn für eine weitgehende Trennung von Kirche und Schule stark gemacht hat, dann muss auf der Suche nach einer neuen Begründung für das Urvertrauen eine andere, nicht göttliche Instanz gesucht werden, die in der Lage ist, die Menschen den Umgang mit Ängsten zu erleichtern. In diesem Zusammenhang bin ich auf eine Studie des Kunstwissenschafters Eckhart Neumann gestoßen, der bereits 1996 eine „Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität“ (https://books.google.at/books/about/Funktionshistorische_Anthropologie_der.html?id=pIE-AQAACAAJ&source=kp_cover&redir_esc=y) herausgebracht hat. Darin bietet der Autor eine gut nachvollziehbare Begründung dafür, warum Menschen Kunst schaffen und sich damit auseinandersetzen. Für ihn sind die Künste eine herausragende Möglichkeit, menschliche Ängste zu bannen, ihnen eine Gestalt zu geben bzw. mit ihnen umzugehen lernen (an der massenhaften Begeisterung für Horror- und Katastrophenfilmen kann man die damit verbundene Angstlust leicht nachvollziehen). Die Künste sind zwar nicht in der Lage, die Ursachen von Ängsten zu beseitigen, sehr wohl aber ist es der unvoreingenommene Umgang mit ihnen, die es uns erlauben, mit unseren Ängsten in einer nichtdestruktiven Weise umgehen zu lernen und so die Unvorhersehbarkeit des Lebendigen in Vertrauen und Zuversicht umzumünzen.

Kulturelle Bildung als herausragendes Medium im Umgang mit der inneren Verfasstheit

Wenn aber Kunst als ein herausragendes Medium im Umgang mit Ängsten gedacht werden kann, so lässt sich daraus unschwer der Schluss ziehen, dass Kulturelle Bildung in besonderer Weise geeignet erscheint, der inneren Verfasstheit der Schüler*innen Ausdruck zu geben. Für mich war es in diesem Zusammenhang sehr erhellend, zuletzt mit einigen Vertreter*innen der sogenannten MINT-Fächer gesprochen zu haben. Als diejenigen, die den jungen Menschen Erfahrungen mit der äußeren Welt und ihren Gesetzmäßigkeiten ermöglichen, stimmten sie unisono darin überein, dass eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen dieser Übung ein stimmiges Verhältnis auch mit der inneren Welt notwendig ist. Wir wissen spätestens seit Sigmund Freud, dass wir diese innere Welt nie umfassend auszuloten in der Lage sein werden; umso wichtiger erscheint ein spielerisch-ernsthafter Umfang mit dem, was uns innerlich umtreibt, um zu einer gefestigten Haltung auch gegenüber der Außenwelt gelangen zu können. Dafür – da waren sich alle Gesprächspartner*innen einig – eignet sich kein Medium so gut wie Kulturelle Bildung.

Kulturelle Bildung als Einübung in Europäische Bürgerschaftlichkeit

Wenn die Bemühungen der Reformpädagogik vor dem Hintergrund des Einigungsprozesses des deutschen Reichs (als einer „verspäteten Nation“) erfolgten so lassen sich zeitgenössische Versuche ihrer Wiederbelebung unschwer übertragen auf den europäischen Einigungsprozess. Der zentrale Unterschied liegt freilich darin, dass eine aktuelle Version sich nicht mehr auf einen homogenen Kulturbetriff zu stützen vermag; ihre Qualität liegt vielmehr in der Einübung einer „Vielheitsgesellschaft“ (Mark Terkessidis), die die Fähigkeit des Zusammenwirkens unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen zu einem zentralen Qualitätsmaßstab gesellschaftlichen Zusammenlebens erklärt. Dies inkludiert auch die Fähigkeit zur Relativierung der je eigenen Kultur, deren Traditionen nicht für sich selbst stehen sondern sich zuallererst als ein Rohstoff verstehen, um im Zusammenwirken mit anderen eine gemeinsame Kultur zu schaffen, die es noch nicht gibt. Der französische Philosoph und Sinologe Francois Julliard weist mit seiner jüngsten Veröffentlichung mit dem Titel „Es gibt keine kulturelle Identität“ (http://www.suhrkamp.de/buecher/es_gibt_keine_kulturelle_identitaet-francois_jullien_12718.html) in eine diesbezügliche Zukunft, in der das „Dazwischen“ unterschiedlicher Kulturen zum Ausdruck der Lebendigkeit (und damit Unvorhersehbarkeit) menschlicher Existenz mutiert, in der wir auf ständig neue Weise kulturellen Reichtum kreieren.

Kultur und Bildung als die wichtigsten Ressourcen in einer nicht mehr von Lohnarbeit dominierten Welt

Die Universität von Oxford University hat bereits 2013 eine Studie (https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf) herausgebracht, deren Ergebnisse darauf hindeuten, dass bereits in wenigen Jahren weite Teile der Lohnarbeitsverhältnisse auch in den mittleren und höheren Qualifikationsbereichen von Automatisierung bedroht sein werden. Nicht nur niedrig Qualifizierte sondern auch Beschäftigte im Transport- und Dienstleistungsgewerbe, Anwälte, Mediziner und wohl auch Lehrer*innen werden sich künftig nicht mehr ausschließlich über ihr Arbeitsverhältnis definieren können. Demensprechend obsolet erscheint die zur Zeit noch dominante Funktion von Schule, junge Menschen auf einen Arbeitsmarkt vorzubereiten, den es bereits in wenigen Jahren so gar nicht mehr geben wird.

So wenig wir uns heute eine Halt gebende Existenzform abseits der Logik des (Lohn-)erwerbs vorstellen können, so sehr steigt die Anforderung an Schule, andere Optionen für die Begründung eines sinnstiftenden Lebens zu entwickeln. Damit wird Schule wesentlich darüber befinden, ob dieser neue Epochenbruch, der das Ende der Industrie- und Arbeitsgesellschaft, wie wir sie kennen, einläutet, zu massenhafter Verelendung führen wird (auf Hartz 4 vorzubereiten wird nicht ausreichen) oder als umfassende Befreiung von den Nöten einer fremdbestimmten Existenz erfahren und erlebt werden kann. Die Erfahrungen mit der Arbeitsschule Kerschensteiners könnte dafür eine gute Anregung bieten.

Vieles spricht dafür, dass Kulturelle Bildung als eine experimentelle Versuchsanordnung einen wesentlichen Beitrag zur Ermöglichung eines nicht völlig verunsichernden Übergangs zu leisten vermag. Die Gründe liegen auf der Hand und reichen von der bereits erwähnten Bannung von Ängsten bis zu einer neuen Form der Sinnstiftung im Umgang mit sich und der Welt. Bereits jetzt wird dafür wichtige Vorarbeit erbrachte, etwa wenn sich Max Fuchs und viele andere um die Rekonstruktion eines „starken Subjekts“ (http://www.maxfuchs.eu/wp-content/uploads/2015/03/fuchs-2016_02091.pdf) im Rahmen von Bildungsprozessen bemühen oder Konzepte der „Lebenskunst“ (http://www.phps.at/texte/GoeddeG3.pdf) eine Renaissance erfahren.

Schulentwicklung als Machtfrage

Diese Bemerkungen bieten nur einige Indizien für die Vermutung, dass sich Schule und mit ihr kulturelle Schulentwicklung einmal mehr an einer Wegscheide befinden. Die Überlegungen zur Reformpädagogik seit ihren Anfängen sollten deutlich gemacht haben, dass die bescheidenen Erfolge ihrer Implementierung (obwohl über deren konzeptionelle Richtigkeit seit mehr als hundert Jahren weitgehende Übereinstimmung herrscht) nicht in erster Linie fachlichem Unvermögen geschuldet sind sondern eminente gesellschaftliche Machtfragen betreffen. Ganz offensichtlich gibt es bis heute massive Kräfte, die sich einer umfassenden Einführung einer neuen Schule verweigern. Diese betreffen ebenso politische wie institutionelle Interessen. Immerhin liegen die richtigen konzeptionellen Antworten (siehe etwa die „Vier Ecksteine für eine neue Schule“ Ellen Keys) seit vielen Jahren auf dem Tisch; ganz offensichtlich mangelt vor allem an erfolgsversprechenden Implementierungsstrategien, die in der Lage wären, die perennierenden Beharrungskräften in die Schranken zu weisen und auf diese Weise einen umfassenden, von den Beteiligten als sinnvoll empfundenen Reformprozess in Gang zu setzen.

In diesem Sinn empfehle ich allen, die sich heute um kulturelle Schulentwicklung bemühen, sich nicht mit einem Nischendasein zufrieden zu geben. Ja, Kulturelle Bildung hat in der Schullandschaft ein gewisses Standing erreicht. Jetzt aber geht es um die „Wurscht“. Dazu gehört auch eine genauere Analyse der Ursachen, die kulturelle Schulentwicklung bislang ach so mühsam und langwierig machen, um diesen Kräften entschlossen entgegen zu wirken.

Ermutigung zu einem neuen Selbstbewusstsein

Eine wichtige Voraussetzung erscheint mir ein geänderter Blick auf sich selbst. Allzu verfestigt im hierarchischen Schulgefüge bestimmt ungebrochen eine hierarchisch ausgerichtete Ergebenheitshaltung, die darauf vertraut, von den wirklich entscheidenden Kräften gestützt, gefördert oder sonst wie in Schutz genommen zu werden, die Entwicklungsstrategien kultureller Schulentwicklung.

Demgegenüber empfehle ich einen neuen Glauben in die eigene Stärke, die nicht mehr das Heil von oben erwartet sondern sich aufmacht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Auch in diesem Zusammenhang können wir von den Erfahrungen der Reformpädagogik lernen, wenn diese von Anfang an mannigfache Allianzen etwa mit der Frauenbewegung, der Arbeitsschulbewegung, der Landschulbewegung, der Kunsterzieherbewegung, der Psychoanalyse und Individualpsychologie eingegangen ist und auch vor politischen Allianzen nicht zurückgeschreckt ist. Vor diesem Hintergrund richte ich die eingehende Forderung an den Kulturbetrieb, als Lobbyist kultureller Schulentwicklung aufzutreten.

An verschiedener Stelle zeigen sich heute künstlerische Initiativen, die sich dran machen, den aktuellen gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen entgegen zu stellen. Initiativen wie das Zentrum für politische Schönheit (https://www.politicalbeauty.de/) machen deutlich, dass Demokratie nur erfahren werden kann, wenn ihre Grenzen ausgelotet werden. Diese Einstellung auch auf den Anspruch auf kulturelle Schulentwicklung zu übertragen, könnte ein lohnendes, wenn auch ansprüchliches Unterfangen sein.

Bei all dem bleibt der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Bemühung um Schulentwicklung unverändert. Er liegt in der ganz persönlichen Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen. Das „eherne Gehäuse“ so auszugestalten, dass diese mit allem wechselseitigem Interesse und (pädagogischen) Leidenschaft gelebt werden kann, bleibt der letztgültige Maßstab für den Weiterbau einer Schule auf der Höhe ihrer Zeit.

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Tourix

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