Über das große Stottern – Warum die Hoffnungen auf eine solidarische Gesellschaft nach der Krise verfrüht sein könnten.

Wenn in diesen Tagen von den Folgen der von der Regierung getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Rede ist, dann wird gerne auf eine diffuse Gruppe von Menschen verwiesen, denen es irgendwie schlechter geht als einem selbst. So erscheinen allerorten Berichte, dass Kinder „sozial schwacher Familien in besonderer Weise von den Schulschließungen betroffen seien, sie seien nicht mit dem notwendigen „Bildungs-Habitus“ (Margrit Stamm) ausgestattet, die Eltern könnten oder wollten ihnen nicht beim Lernen zu Hause helfen und Migrant*innen wären schon auf Grund von Sprachschwierigkeiten von den Klassenlehrer*innen nur schwer erreichbar. Andere sprechen davon, dass Menschen in unzureichenden sozialen Verhältnissen in besonderer Weise von grassierender Arbeitslosigkeit betroffen seien; sie wären nur kaum mit den notwendigen digitalen Devices ausgestattet und hätten in der Regel keine Möglichkeit, sich in Home-Offices zu verschanzen. Auf engem Raum zusammengedrängt würde ihnen in Ermangelung eines Balkons oder eines Gartens in ihren kleinen Substandardwohnungen zuerst die Decke auf den Kopf fallen.

Hier artikuliert sich ganz offensichtlich eine „neue Solidarität von oben“. Sie geht von einer begünstigten Beobachter*innen-Rolle aus und richtet sich nicht nur an dezidierte Risikogruppen (alte Menschen, Kranke,…) sondern an all diejenigen, die es schon vor Corona schwerer gehabt haben, mit dem täglichen Leben fertig zu werden und die in diesen Tagen den Konsequenzen der Regierungsentscheidungen besonders brutal ausgesetzt sind.

Wer ist das eigentlich „sozial schwach“?

Es gibt ihn also noch, den gesellschaftlich sensiblen Mittelstand, der zumindest verbal noch nicht völlig durchtränkt ist von der Logik der Konkurrenzgesellschaft, in der jeder/jede – ohne Rücksicht auf Verluste – ausschließlich mit der Verfolgung seiner/ihrer individuellen Erfolgsgeschichte beschäftigt ist. Aber selbst all diese Gutmeinenden stehen nach dreißig Jahren neoliberaler Gehirnwäsche vor dem Dilemma, über keine auch nur halbwegs aussagekräftige Begriffsbestimmung zu verfügen. Dieses beginnt bei der Verwendung des Begriffs „sozial schwach“, der nur all zu leicht in die Irre führt. Genauso gut könnte man sagen, dass es nur ihre soziale Stärke ist, die ihnen ihr Überleben sichert. Als solche verfügen Menschen auf den „unteren Stufen der gesellschaftliche n Hierarchieleiter“ in der Regel über ein besonderes soziales Sensorium, das ihnen ein letztes Gefühl der Zugehörigkeit sichert. Es sind ihre informellen Netzwerke, Gruppenbildungen aber auch das Wissen um Fördermaßnahmen, die sie über den Tag bringen. Martin Schenk von der Armutskonferenz spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Beleidigung, der in der Verwendung des Begriffs „sozial schwach“ mitschwingen würde. Zugleich gibt es gute Gründe, gerade diejenigen, die sich mit aller Skrupellosigkeit an die Spitze der Gesellschaft gekämpft haben, als besonders „sozial schwach“ zu bezeichnen. Immerhin haben sie auf ihrem Weg zum individuellen Erfolg jegliches soziales Engagement als unnötige Behinderung hinter sich gelassen, um jetzt am Beispiel ihrer individuellen Erfolgsgeschichte den Zurückgeblieben die hemmenden Wirkungen des Sozialstaates zu erklären.

In dieser neuen Rhetorik der Solidarität versucht ganz offensichtlich ein Mittelstand noch einmal zu sich zu kommen, in dem er sich eines Wertekanons versichert, der sich nicht ausschließlich an den gerade geltenden Marktwerten erschöpft. Diesbezügliche Ermutigungen in Zeiten der Krise reichen vom Zukunftsforscher Matthias Horx, der gleich davon spricht, dass wir drauf und dran wären, in ein neues Zeitalter der Solidarität einzutreten bis hin zu linken Gesellschaftskritiker*innen wie Monika Mokre, die wesentlich vorsichtiger zumindest neue Chancen der Solidarisierung ortet.

Hoffnungen auf Solidarität in einer liberal-konservativ verfassten Gesellschaft

Meine diesbezügliche Skepsis geht in verschiedene Richtungen. Da ist zum einen das sukzessive Überhandnehmen einer liberal-konservativen Hegemonie, die uns in den letzten Jahren auf allen medialen Kanälen eingebläut hat, dass soziale Ungleichheit zu jeder prosperierenden Gesellschaft einfach dazu gehört. Dazu braucht es diejenigen, die „etwas leisten“; die müssten besonders gefördert und honoriert werden, während alle anderen „selbst schuld“ wären an ihrer inferioren gesellschaftlichen Stellung und dementsprechend gepiesackt werden müssten. Sie müssten sich halt einfach ein wenig mehr anstrengen, um selbständig durchs Leben zu kommen.

Befördert wurde diese Ideologie durch martialische Äußerungen derer, die „es geschafft haben“, um von ihrer hohen Warte voller Verachtung auf die da unten herabzuschauen. Den Vogel hat dabei einer reichsten US-amerikanischen Investoren Warren Buffet abgeschossen, wenn er vor ein paar Jahren in der New York Times von einem „Krieg der Reichen gegen die Armen“ gesprochen hat, den er und seinesgleichen zu gewinnen beabsichtigten (siehe dazu den Kommentar des deutschen Kabarettisten Georg Schramm).

Es kann also vermutet werden, dass es mittlerweile in weiten Teilen der kapitalistisch regierten Welt jeweils Mehrheiten gibt, ungleiche Lebensverhältnisse als natürliche Gegebenheit akzeptiert haben, und sich bereit finden, sich auf dieser Grundlage ihren Siegern a la Trump zu unterwerfen. Zu diskutieren bleibt anhand diverser Gini-Vergleiche allenfalls, welches Ausmaß an Ungleichheit den wirtschaftlichen Erwartungen am ehesten entspricht bzw. ab wann die „sozialen Kosten“ allenfalls zu hoch werden (Auf dieser Grundlage feiern wir im Moment gerade ein Hochamt zugunsten derjenigen, die etwa im Pflegebereich in normalen Zeiten die schlechteste Behandlung erdulden mussten, um in diesen Tagen als einzig verbleibende Retter*innen in der Not gepriesen zu werden. Und doch wissen wir schon jetzt, dass dies nicht auf Dauer mit einer Aufwertung ihrer sozialen Stellung verbunden sein wird).

Diese Form des Dreinfindens wird zusätzlich gefördert durch den Verlust einer politischen Opposition, die noch einmal glaubhaft in der Lage wäre, für „gesellschaftlich Benachteiligte“ die Stimme zu erheben, ihre Interessen zu bündeln und diese in die politische Arena zu tragen. Allzu weit haben sich die verbliebenen Oppositionspolitiker*innen von den Lebensverhältnissen entfernt, aus denen sie einst selbst aufgebrochen sind. Und damit der Wunsch, sich aus den Fesseln der Prekarität zu lösen, um – endlich – als vollwertige Mitglieder einer Erfolgsgeneration anerkannt zu werden. Die einzigen, die mit Hinweis auf die „einfachen Leute“ zumindest noch den Anschein erwecken wollen, Ungleichheit in die politische Arena zu tragen, das sind zur Zeit die rechten Populisten, in dem sie ihr Lektorat gegen die neuen liberalen Eliten, die es sich gerichtet haben, in Stellung bringen.

Als immer mehr Schicksale aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwanden

Womit wir bei einem weiteren Problem wären, das jedenfalls für mich darin besteht, dass die Individualisierungsstrategien der letzten Jahre u.a. dazu geführt haben, Menschen, auf die da rekurriert wird, jegliche Öffentlichkeit zu entziehen. Ihren Wortführer*innen beraubt, kommen sie mit all ihren Inferioritäten allenfalls im sogenannten „Proleten-Fernsehen“ vor. Darüber hinaus verfügen sie über keine eigene Stimme, um davon zu erzählen, was sie umtreibt, wie sie mit den täglichen Katastrophen umgehen, welche Erwartungen und Hoffnungen sie ans Leben haben.

In dem Maß, in dem diese Gruppe stumm gemacht wurde, tritt nun der oben erwähnte hartnäckige Teil des Mittelstands auf, um stellvertretend noch einmal auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Aber schon auf Grund der hohen Ausdifferenzierung der Gesellschaft „wissen“ die meisten, die da jetzt an die Solidarität appellieren, nichts oder fast nichts über die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Betroffenen. Also stellen sie Vermutungen an, projizieren allenfalls eigene Abstiegsängste, damit reden sie über etwas, was sie nicht genau kennen (und im Detail auch gar nicht kennen lernen wollen).

Was den Betroffenheits-Kundgebungen fehlt, der Anspruch auf ein neues Miteinander, damit die Bereitschaft, diese Menschen, um die es angeblich geht, auch selbst zu Wort kommen zu lassen, ihnen Öffentlichkeiten zu verschaffen, in denen sie nicht nur ihr Leid klagen sondern auch wieder lernen können, eigene Ansprüche zu artikulieren, sich auszutauschen, verbindlich zu machen und in der Folge auch durchzusetzen. Ja, das ist schwer, es gilt, die bestehenden Sprachbarrieren (auch und gerade innerhalb der deutschen Sprache) abzubauen, mühsam Vertrauen aufzubauen, Abstriche zu machen, Anfeindungen zu begegnen, Niederlagen einzustecken, kurz einen langen Atem zu entwickeln, um als mittelständiger Anwalt für die Sache der sozialen Gerechtigkeit nicht nur Solidarität zu propagieren sondern auch konkret werden zu lassen.

Über die vermeintliche systemische Alternativlosigkeit und den Verlust an Gesellschaftskritik

In diesem Zusammenhang zuallererst zu beklagen ist auch der Verlust an Gesellschaftskritik. In dem Maß als das gegenwärtig dominierende kapitalistische Wirtschaftssystem als alternativlos präsentiert wird, erübrigt sich die Suche nach systemischen Alternativen. Also müssen wir uns damit begnügen, individuelle oder auch gruppenspezifische Positionsverbesserungen zu bewirken und gleichzeitig zur Kenntnis zu nehmen, dass die Gesellschaften immer weiter auseinanderdriften. Und doch war den meisten politisch bewussten Menschen die längste Zeit klar, dass soziale Ungleichheit nicht vom Himmel gefallen ist sondern den Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse darstellt, die darauf hinausliefen, den einen zu nutzen und den anderen zu schaden.

Dagegen trat eine Gesellschaftskritik an, die sich im Rahmen von politischen Aufklärungsprozessen zum Ziel setzte, diese Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Dabei halfen Theorien, die Funktionszusammenhänge zu erklären versuchten, vor allem, um den Leidtragenden Instrumente an die Hand zu geben, um ihre Position nicht nur individuell sondern kollektiv zu verändern. Noch 2009 kam im öffentlichen Gespräch eine Ahnung auf, wenn allenthalben von „Krisengewinner*innen“ die Rede war, die sich gegen die „Krisenverlierer“ durchgesetzt hätten: Der Umstand, dass damals euphorisch von einer Rückkehr des Politischen geträumt wurde während in der Realität aber die Gewinne privatisiert und die Verluste verstaatlicht wurden, sollte uns in Bezug auf die heutige Krise vorsichtig machen.

Es ist hier nicht der Platz, um die Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung nachzuzeichnen. Unabweisbar ist jedoch der Umstand, dass das notleidende Proletariat nur deshalb seine gesellschaftliche Situation zu verbessern vermochte, weil es sich einerseits zu einer Kampfgemeinschaft entwickelte und anderseits über ein Wissen über sich selbst verfügte, das ihren Status als den Umständen Ausgelieferte in den Anspruch, Geschichte zu machen, damit vom Objekt zum Subjekt zu werden, transformierte. Ausgestattet mit einer starken Führung war es gewillt, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zumindest mitzugestalten.

Ursprünglich vom Mittelstand als zentrale Gefahr angesehen, die sich als aufsteigende Klasse daran machte, ihr ihre Privilegien streitig zu machen, bedurfte es eines historischen Kompromisses in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften, um zumindest in Teilbereichen zu gemeinsamem politischen Handeln zu kommen. „Ein Stück des Weges gemeinsam gehen“, hieß das noch unter Bruno Kreisky und bildete in einer kurzen Phase am Ende des Nachkriegs-Wirtschaftswunders die Grundlage für einen gesellschaftlichen Ausgleich, der allen Beteiligten zu Gute kommen sollte.

Das politische Wissen über mögliche Handlungsanleitungen erreicht die Betroffenen nicht mehr

Davon ist heute weit und breit nichts mehr zu erkennen. Die Meinungsträger*innen der umfassenden neoliberalen Transformation haben ganze Arbeit geleistet. So wurde der historische Kompromiss aufgekündigt, die sozialstaatlichen Errungenschaften zurückgefahren und einer seither permanent wachsenden gesellschaftlichen Gruppe eine Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse zugemutet. Während die ehemals linken Parteien sich als besonders liebesdienerische Befürworter sich verschärfender Konkurrenzverhältnisse hervortaten (Clinton, Schröder, Blair, später auch Vranitzky und Klima), begründeten sie diesen Kurswechsel mit einem Ende der Klassengesellschaft: Die Arbeiterschaft habe ausgedient, sie befinde sich nicht nur rein quantitativ auf dem Rückzug, auch ihre historische Rolle habe ausgedient; politisches Ziel müsse es fürderhin sein, möglichst viele Menschen auf die neuen, individualisierten Konkurrenzverhältnisse einzustimmen. Die besondere Infamie dieser Argumentation lag dabei darin, dass im Ergebnis all denjenigen, ob im überkommenen Status des Arbeiters oder nicht, die in diesen verschärften Konkurrenzverhältnissen nicht mithalten konnten oder wollten, nicht nur ihre politischen Vertretungen verlustig gingen (nicht unzufällig beginnt just in dieser Phase der Aufstieg der Rechtspopulisten) sondern sie wurden auch ihrer historischen Bestimmung beraubt.

Ihre mittlerweile depravierten Vorgänger*innen wussten sich als stolzes Kollektiv der Arbeiter*innen noch im Wissen („Wissen ist Macht!“), dass eine andere, bessere Welt möglich ist und sie dazu ausersehen waren, im Kampf gegen eine ausbeuterische Machtelite diese in die Tat umzusetzen. Ihr politisches Ziel war die persönliche und kollektive Emanzipation aus ihren elenden Verhältnissen, die nur mit Hilfe einer umfassenden Solidarisierung möglichst vieler Betroffener möglich erschien. In eine solche Erzählung passen nicht nur die Schriften von Marx und Engels und ihren Apologet*innen. Auch eine ganze literarische Tradition, die von Fjodor Dostojewski („Die Erniedrigten und Beleidigten“) über Frantz Fanon („(Die Verdammten dieser Erde“), Zygmunt Bauman („Die Ausgegrenzten“) bis zu Elfriede Jelinek („Die Ausgesperrten“) wurde nicht müde, die Schlechtgestellten an ihre historische Mission zu erinnern. Und noch heute halten sich kleine intellektuelle Zirkel an den Emanationen Antonio Negris („Empire“), Paul Masons („PostCapitalism: A Guide to our Future“) oder Thomas Pikettys („Kapital und Ideologie“) fest, ohne damit freilich noch einmal in unmittelbaren Dialog mit denen zu treten, die das, was in ihren Büchern kritisch analysiert wird, aus erster Hand erleiden.

Also bleibt dem wachsenden Heer an vom Rest der Gesellschaft Ausgespuckten nur mehr die Ahnung um die eigene Perspektivlosigkeit. Hier zeigt sich fast das ganze Ausmaß des ideologischen Sieges des Neoliberalismus, der sich in der Fähigkeit ihrer Vordenker*innen zeigt, den strukturell Benachteiligten all ihre Werkzeuge, um sich gegen ihre Deklassierung zur Wehr zu setzen, aus den Händen zu schlagen – um sie mit vagen Feindbildern aus den eigenen Reihen zu entschädigen.

Sie finden sich wieder an den Rändern der Gesellschaft, der mit ihrer diffuses Zersplitterung zwar die klar artikulierten Klassengegensätze abhandengekommen sind, deren Mitte aber dafür von allen Arten von Abstiegsängsten geplagt ist, denen sie sich weitgehend hilflos ausgeliefert fühlen und gegen deren vermeintliche Verursacher*innen sie sich fest an der Leine von Renegaten demokratischer Errungenschaften auf Feindessuche machen. Weitgehend unangetastet bleiben hingegen die wenigen Big Player, die sich das große Geschäft unter einander aufteilen und auf diese Art – von Politik weitgehend unbelästigt – über die zentralen Ressourcen verfügen. Im Vergleich dazu müssen den „Deklassierten“ von heute Konzepte etwa eines Herbert Marcuse, der bereits in den 1960Jahren versucht hat, angesichts der historischen Kompromisses zwischen Bürgertum und Proletariat den ausgebeuteten Menschen an den gesellschaftlichen Rändern noch einmal eine historische Rolle zuzuweisen, wie blanker Hohn erscheinen.

Steht uns eine anarchistische Renaissance bevor?

In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich besser verstehbar. Guillaume Paoli hat in „Soziale Gelbsucht“ im Detail analysiert, wie hier eine voneinander isolierte Deklassierte neue Formen des Widerstands etablieren, die nicht mehr auf die Repräsentationsfunktion des parlamentarischen Systems („die haben sich längst von uns verabschiedet“) vertrauen, sondern mit dem Lahmlegen des öffentlichen Lebens auf Verbesserung ihrer Situation hoffen.

Verschärft wurde diese umfassende politische Verdummungsstrategie – anders kann ich es nicht nennen – durch das Aufkommen eines öffentlichen Diskurses über Migrant*innen. Sie waren bereits viele Jahre vorher – abseits jeglichen öffentlichen Interesses – einer Arbeit nachgegangen, die die einheimische Bevölkerung nicht mehr machen konnte oder wollte. Mit dem Dominantwerden der neoliberalen Theorie und Praxis aber rückten sie Ende der 1980er Jahre ins öffentliche Bewusstsein. Während sie für die einen (vor allem den Aufsteigern aus dem angestammten Arbeitermilieus) zu idealen Feindbildern mutierten, die mit dem Ende der Vollbeschäftigung auch von den Gewerkschaften vor allem als Konkurrent*innen am Arbeitsmarkt gesehen wurden) fanden sich bei den anderen bei ihnen (fast) alle Qualitäten wieder, die die Arbeiterklasse einst repräsentiert hatte: Armut, Diskriminierung, Ausgrenzung waren fürderhin die Ingredienzien, die für die Beschreibung diese Gruppe als Kollektiv herhalten mussten. Hinzukommt dann auch noch ein Cultural Turn, der in linksliberalen Milieus jeder neue auftauchenden kulturellen Identität eine besondere Faszination zuspricht, in der Hoffnung, damit – wenn schon nichts politisch etwas bewegen zu können so doch eine multikulturelle Bereicherung des Alltags erfahren zu können.

Und so wird heute „sozial schwach“ nur zu gern synonym mit „migrant“, „bildungsfern“ assoziiert, da kann noch so oft darauf hingewiesen werden, dass sich Migrant*innen keinen einheitlichen sozialen Block darstellen und kulturelle Zuschreibungen ab einem gewissen Zeitpunkt das Gegenteil von dem bewirken, was sie versprechen: die Gesellschaft solidarischer zu gestalten. Das können Politstrateg*innen auf der Rechten sehr viel bessern, wenn es ihnen gelingt, die Evidenz sozialer Ungleichheit national und global als vorrangig kulturelles Phänomen zu interpretieren, für das Politik nur ein einziges Instrument zur Verfügung steht: das der Abschottung und Ausgrenzung innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen (Peter S. Goodmann wies zuletzt eindringlich darauf hin, dass die Auswirkungen der nationalen Maßnahmen gegen die Pandemie auch die globale Ungleichheit nachhaltig verschärfen könnten: „Pandemic Ravages the Poor“).

Das alles sollten wir mitbedenken, wenn wir heute als mehr oder weniger wohlbestallte Mitglieder des Mittelstandes versuchen, das Wort zugunsten derer zu erheben, von denen wir vermuten, dass sie an der aktuellen Krise besonders leiden würden. Schon welchen Begriff wir wählen: „Sozial Schwache“. „Bildungsferne“, „Mitglieder der unteren Bildungsschichten“, „Menschen in prekären Lebensverhältnissen“, „Migrante“, „Ausgegrenzte“ „Ausgebeutete“, „Diskriminierte“, „Unterprivilegierte“ „aus dem öffentlichen Bewusstsein Ausgeschlossene“ oder einfach „Arme“ (um nur ein paar der unzähligen Bezeichnungen hier anzuführen) erzählt in der Regel mehr über uns selbst als über die Bezeichneten.

Wir können nicht mehr über die sozialen Grenzen hinweg miteinander reden

In der vermaledeiten Situation entgehen wir nicht der Not, dass zwischen uns und denen, um die es uns geht, strukturell eine unüberbrückbare Kluft geschaffen wurde, die vor allein eines produziert hat: ein Ausmaß an wechselseitiger Sprachlosigkeit, die sich moralisch nicht mehr überbrücken lässt.

Sosehr wir wissen, dass ein gedeihliches demokratisches Zusammenleben zumindest ein Minimum an „gemeinsamen Räumen“ bedarf, in denen man sich über die sozialen Grenzen hinweg austauschen kann, so sehr haben wir zugelassen, dass diese Räume in all den Jahren der Diversifizierung zusammengebrochen sind. Das heißt nicht, dass es auf individueller Basis nicht eine beträchtliche Anzahl an Brückenbauer*innen gibt, die sich dem herrschenden Klima widersetzen und auf ein neues Miteinander setzen (dazu gehören durchaus auch so manche politisch Abtrünnige wie Christian Konrad, der sich mit seinem Engagement für Geflüchtete den Zorn seiner konservativen Parteifreunde zugezogen hat). Dazu werden sich künstlerisch umrahmte Spenden-Aufrufe samt zugehöriger (leider zurzeit nur virtueller) Charity-Aktionen (die am Ende doch nur auf eine Feststellung der Superiorität der Spender hinausläuft) in dieser Phase der kollektiven Verunsicherung zu überbieten trachten.

Politisch hingegen – und nur darauf will ich an dieser Stelle hinaus – gibt es im Moment keinerlei Anhaltspunkte, die darauf hindeuten würden, das da politisch einflussreiche Kräfte noch einmal einen historischen Kompromiss finden würden.

Krisen stärken die Starken und schwächen die Schwachen

Geben wir uns keinen zu großen Illusionen hin: Krisen haben immer nur zu einer Verschärfung der Lage derer geführt, die bereits zuvor nicht auf der Butterseite des Lebens gestanden sind. Die ungleichen Auswirkungen der zu erwartenden Sparpakete lassen schon jetzt grüßen und bringen Rudolf Burger in der letzten Addendum-Ausgabe zur Vermutung: „Wenn der Spuk vorbei ist, wird die Kritik an den Maßnahmen kommen“. Darüber hinaus ist jedenfalls mir kein historisches Beispiel bekannt, anhand dessen sich ernsthaft schlussfolgern ließe, dass die Privilegierten diesmal bereit sein könnten, auf ihren Krisen-Mehrwert freiwillig auf ihren dominierenden Platz in der Gesellschaft zu verzichten. Dazu gehört auch eine öffentliche Berichterstattung, die uns gerade das elende Schicksal der in Internierungslagern auf den griechischen Inseln gestrandeten geflüchteten Menschen, dient nicht gerade als Beleg für eine signifikante Zunahme an „internationaler Solidarität“.

Wenn also heute ein kleiner Teil des Mittelstandes rhetorisch herumlaviert bei der schieren Benennung derer, die da im Moment strukturell benachteiligt werden, dann drückt sich hierin vor allem die Angst vor dem eigenen Abstieg aus, der mit dem Engagement für die, die sich zur Zeit auf den untersten Stufen der sozialen Leiter drängen zumindest hinausgezögert werden soll. Wollte dieser Mittelstand als selbst bedrohtes Kollektiv aber eine gesellschaftliche Veränderung, die diesen Namen verdient, dann wird das das unsichtbare Corona-Virus, so verheerend seine Wirkungen im letzten sein mögen, nicht zu leisten vermögen.

Da müssen wir schon selbst ran, und sei es mit der Verteidigung des Wissens, dass Geschichte schon immer eine Geschichte von Krisen und daraus resultierenden Klassenkämpfen war. Die nationalen Regierungen wissen nur zu gut um die Bedrohlichkeit der sich aus der Krisenbewältigung ergebenden Konflikte. In der Diskussion um den Einsatz neuer sozialer Kontrollmaßnahmen mittels Big Data werfen diesbezügliche Erwartungen ihre Schatten voraus.

In einem solchen Rahmen aber erhält Solidarität noch einmal eine ganz andere Dimension, für die wir uns im Zuge der Aufräumarbeiten rüsten sollten. Wir könnten damit beginnen, genauer darüber nachzudenken, welche Bezeichnung wir künftig wählen wollen für diejenigen, mit denen wir uns solidarisieren wollen. Und was das für uns selbst bedeutet.

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