Es war eine traurige Weihnacht für Philipp gewesen. Schon Wochen vorher hörte er, wenn er abends im Bett lag, dass sich die Eltern stritten. So laut und so lange, wie sie nie zuvor gestritten hatten. Und drei Tage vor dem Fest hatte der Vater die Tasche gepackt und war gegangen.

Danach war die Mutter zu ihm gekommen und hatte ihm erklärt, dass sie und der Vater sich nicht mehr lieb hätten.Was aber mit ihm, Philipp, nicht das Geringste zu tun hätte. Sein Vater war und bliebe sein Vater.

Aber der Vater war und blieb fort. Unterm Weihnachtsbaum, bei der Bescherung, holte die Mutter ein Päckchen hervor. Das sei für ihn. Der Vater habe es extra für ihn da gelassen.

In den Tagen nach Weihnachten hantierte Philipp unlustig am neuen CD-Player herum, denn eigentlich war ihm die Lust auf Musik vergangen.

Auch die Mutter, wenn sie meinte, sie sei allein, saß traurig da und lächelte nur, wenn Philipp in ihre Nähe kam. Aber obwohl sie so tat, als wäre alles in Ordnung und normal, wusste Philipp, dass sein und ihr Leben sich sehr ändern würde.

Drei Tage vor Silvester, draussen war es inzwischen bitter kalt geworden, begann die Mutter zu telefonieren, mit allen möglichen Leuten, wie es schien. Dabei hielt sie ein Prospekt in der Hand, das sie vorher offenbar einige Zeit hatte suchen müssen. Sie verschickte sogar ein Fax und ging in den Stunden danach immer wieder zum Faxgerät, um zu schauen, ob schon eine Antwort da wäre.

Schließlich war die Antwort da. Die Mutter holte ihn zu sich an den Tisch. Da lag schon das Antwort-Fax und auch das Prospekt, in dem sie jetzt so blätterte, dass auch Philipp hinein schauen konnte. Ein Schiff war drauf, auf einem großen Fluss, bunt erleuchtet, weil es Nacht war auf dem Bild. Und im Hintergrund sah man ein Feuerwerk.

Am Silversternachmittag packte die Mutter Philipps gute Sachen aus dem Schrank, sogar die Fliege, die er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten trug. Und auch sie selbst zog sich besonders festlich an.

"Wenn man ein neues Jahr beginnt," meinte sie, "ist das etwas ganz Besonderes. Man stellt sich vor, wie es wohl sein wird. Und je festlicher man es anfängt, umso besser kann es werden."

Philipp, der sich bisher nur an Silvesterfeiern zu Hause erinnern konnte, mit Hausschuhen vor dem Fernseher, fand das aufregend. Mutti nannte das, wo sie hin gingen PARTY, und bei einer Party war Philippp noch nie gewesen.

Das Taxi kam spät. Philipp und die Mutter standen schon vor der Tür und kämpften gegen die Eiseskälte an, indem sie über den harschen Weg stapften, immer hin und her. Beinahe wäre die Mutter wieder ins Haus gegangen, um auf den Anrufbeantworter zu schauen, ob eine Absage gekommen ist. Denn schon den ganzen Tag lang hörte man im Radio Warnungen vor Glatteis. Aber gerade in dem Moment, als sie sich zum Haus umdrehen wollte, bog ein Auto mit dem gelb leuchtenden Schild auf dem Dach um die Ecke.

"Ich dachte schon, Sie kommen nicht.", meinte die Mutter, während sie und Philipp einstiegen.

Aber der Fahrer winkte nur ungeduldig ab.

"Ach was, die Straßen sind ja frei. Nur die Leute spielen verrückt. Als ob ihnen erst jetzt eingefallen wäre, dass Silvester ist. Nicht jeder ist so vernünftig wie Sie, sich ein paar Tage früher anzumelden."

Als sie nach fast einstündiger Fahrt am Fluss ankamen, lag da das Schiff. Hell erleuchtet und überall mit bunten Wimpeln und Lämpchen behangen, fand Philipp es viel schöner als im Prospekt.Schon am Eingang empfing sie eine uniformierte Frau mit: "Ach, da ist ja auch Familie ....". Und Philipp fragte sich, woher man sie kenne. Aber schnell stellte sich heraus, das Philipp das einzige Kind an Bord sein würde, was eigentlich langweilig war. Noch langweiliger schienen die Leute, zu denen sie an den Tisch gesetzt wurden. Ein Ehepaar, jünger noch als seine Eltern, die sauertöpfisch in die Gegend guckten und nichts für Kinder übrig zu haben schienen.

Kurz nachdem sich Philipp und die Mutter zu ihnen gesetzt hatten, fragte die Frau den Mann, ob er den Autoschlüssel habe. Der aber schüttelte den Kopf.

"Den hast doch du."

Aber auch sie schüttelte den Kopf.

"Nein, du."

Und während sie so überlegten, wer beim Aussteigen was gemacht hatte, kamen sie darauf, dass sie beide ordentlich die Knöpfchen an ihrer Tür herunter gedrückt und die Autotür zugeknallt hatten. Der Schlüssel, so war bald klar, musste noch im Schloss des Motors hängen, wo man nun ohne Türschlüssel nicht heran käme. Die Frau packte nach einigem Nachdenken über Schlüsseldienste und Taxifahrten in der Silvesternacht ihren Mann beim Ärmel und saß den Rest des Abends mit ihm in einer Ecke, wo sie sich zu streiten schienen.

Das Schiff hatte inzwischen abgelegt, die Musikgruppe zu spielen angefangen und die Mutter etwas zu trinken bestellt. Aber es war langweilig. Die Mutter holte Stifte und Papier aus ihrer Tasche, wie so oft, wenn man auf irgend etwas wartete. Aber sie mussten nicht viele Strichmännchen malen, denn bald spielte die Band nicht mehr diese Silvesterschlager, sondern etwas ganz anders, sehr Rhythmisches.

Die Mutter sagte: "Hörst du das? Das ist südamerikanisch. Jeder dort hat Rhythmus im Blut. Die Menschen hören überall diese Musik. Sie stehen an den Straßenecken und wackeln so vor sich hin. Weil sie nicht still halten könne, wenn sie das hören. Komm, wir tanzen."

Philipp war entsetzt.

"Aber ich kann doch gar nicht tanzen. Guck, da vorn ist noch gar keiner. Die Leute an den Tischen werden uns alle zuschauen. Das ist peinlich!"

Aber die Mutter ließ sich nicht beirren.

"Peinlich ist, wenn man zu Silvester so langweilig rumhockt. Du bist ein Kind, du musst nicht tanzen können. Aber du wirst sehen, es geht von ganz allein."

Ehe sich Philipp versah, hatte ihn die Mutter auf die Tanzfläche bugsiert. Und Philipp fand, noch peinlicher, als allein zu tanzen, war auf der Tanzfläche zu stehen, von jedem gesehen zu werden und nicht zu tanzen. Außerdem sah, was die Mutter machte, wirklich nicht so furchtbar schwer aus.

Hernach saßen sie schwitzend an ihrem Tisch und tranken erst einmal etwas. Die drei Frauen vom Nachbartisch nickten beifällig und sprachen in einer fremden Sprache, Mutti meinte, das sei französisch, was man nicht nur in Frankreich, sondern auch in Belgien spräche.

Denn daher, hatten sie mit Händen, Füßen und ein paar Brocken Deutsch erklärt, kamen sie.

Kurze Zeit später stand eine von ihnen an ihrem Tisch und hielt Philipp mit einem auffordernden Nicken die Hand hin. Der sah seine Mutter fragend an, welche erklärte, dass ein Mann (und ein solcher wäre er ja bald) einer Frau nie einen Tanz abschlagen dürfe. Das wäre sehr, sehr unhöflich. Und immerhin könnte man zu dritt ja nicht tanzen. Sie, die Mutter, würde sich derweil ein wenige ausruhen.

So ging das den ganzen Abend. Philipp tanzte entweder mit der Mutter oder einer von den drei Frauen. Manchmal schaute er in die Ecke zu dem noch immer streitenden Ehepaar, das sich auch später beim Essen nicht zu ihnen zurück setzte. Die Mutter meinte, dass es dumm sei, sich den schönen Abend selbst so sehr zu verderben. Nicht einmal hatten die beiden getanz, obwohl Tanzen doch solchen Spaß machte.

Und dann das Essen! Es nannte sich kalt-warmes Büffet und bot Köstlichkeiten, die er noch nie gesehen hatte, neben solchen, die er zu Hause nur an Festtagen bekam. Wäre nicht irgendwann sein Bauch voll und das Büffet leer gewesen, hätte Philipp immer so weiter essen können.

Stattdessen meinte die Mutter, man müsse sich nun, zur Verdauung, erst recht bewegen. Und Tanzen sei eine ganz gute Form der Bewegung.

So ging das bis die Musik aufhörte und der Mann am Mikrophon meinte, das Jahr wäre gleich zu Ende.Das Ehepaar in der Ecke stritt noch immer, fast hätten sie den Mann am Mikrophon übertönt, der inzwischen die Leute aufforderte, zu ihrem Sektglas zu greifen, damit man das neue Jahr begrüßen könne.

Auch Philipp hielt ein Glas mit einem Schlückchen Sekt in der Hand. Und nach dem "Prost Neujahr!" von allen Seiten trank er das prickelnde Getränk und wurde von vier Frauen, nämlich der Mutter und den drei Tischnachbarinnen, heftig abgeküsst.

Danach gingen sie an Deck und sahen sich das Feuerwerk an, das hier, auf dem Fluss, noch viel, viel schöner aussah, weil sich die Raketen in der Luft im Fluss spiegelten.

Irgendwann zwischendurch hatte ihm die Mutter mit einem Blick nach draussen erklärt, hier sei Bingen und ab nun führe man wieder zurück. Aber jetzt waren sie schon wieder da. Die Frauen vom Nachbartisch verabschiedeten sich herzlich, das Ehepaar stritt auch beim Aussteigen noch und draußen stand schon ihr Taxifahrer und stöhnte, dass die Leute ja doch verrückt, mindestens aber ein bisschen dumm seien.

Während der Fahrt nach Hause drückte der Fahrer der Mutter den Notizblock in die Hand, auf dem sie notieren sollte, welche Taxirufe eingingen. Die Mutter schrieb und schrieb. Und Philipp, an sie gelehnt, schlief schon ein bisschen.

Philipp schlief auch halb, als ihn die Mutter, zu Hause angekommen, auszog und ins Bett packte. Beim Gute-Nacht-Kuss meinte er: "Gell, so dolle wie wir gefeiert haben, muss das ein ganz prima Jahr 1996 werden."

Drei Monate später sind Philipp und seine Mutter aus der Wohnung aus- und in eine andere Stadt gezogen. Die Eltern stritten sich noch immer, jetzt am Telefon. Den Vater sah Philipp noch drei oder vier Mal.

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Silvia Jelincic

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