Von der Vernunft der Promillefahrer

Reality is an Illusion,

caused by a Lack of Alcohol.

PADDY O’CONNOR

Das deutsche Straßenverkehrsrecht hält für die Kraftfahrer eine reiche Auswahl an Möglichkeiten bereit, den Führerschein zu verlieren: Vom Absinken der psychophysischen Leistungsfähigkeit über das Begehen einer Verkehrsstraftat (Unfallflucht, Straßenverkehrsgefährdung etc.) bis zum Erreichen der magischen 18-Punkte-Grenze im Flensburger KBA-Register.

Die zahlenmäßig bei weitem häufigste Ursache für einen Führerscheinentzug ist dabei das Delikt Alkohol am Steuer, das Jahr für Jahr etwa 200.000 Kraftfahrern zum Verhängnis wird. Die meisten von ihnen sind dabei nicht mit einer Alkoholisierung irgendwo im Bereich der gesetzlichen Grenzwerte unterwegs, sondern weisen erheblich höhere Blutalkoholkonzentrationen auf. Der durchschnittliche (!) Promille-Wert aller entdeckten Alkoholfahrten liegt bei satten 1,7 Promille (in Worten: einskommasieben)! Ein gestandenes Mannsbild um die 80 kg braucht für diesen Promillewert zwischen zehn und zwanzig Halbe Bier (oder entsprechende andere Alkoholika). Das Verhalten der Alkoholfahrer ist dabei ungemein änderungsbeständig.

43 Prozent der Alkoholfahrer werden innerhalb von 10 Jahren erneut wegen eines Trunkenheitsdeliktes verurteilt, E. STEPHAN, einer der führenden Verkehrspsychologen, schätzt die tatsächliche Rückfallquote (inkl. dem Dunkelfeld der nicht mehr Erwischten) auf über 90 Prozent! Die Rückfallwahrscheinlichkeit eines vorbestraften Kraftfahrers ist dabei um so höher, je mehr Promille er hatte und je öfter er bereits mit Alkohol am Steuer aufgefallen ist. Das heißt, je gravierender die Vorgeschichte eines solchen Kraftfahrers, desto weniger Hoffnung besteht, daß sich etwas Grundlegendes daran ändern wird.

Diese hartnäckige Rückfallneigung ist rätselhaft, nicht zuletzt nur für die betroffenen Alkoholfahrer selbst, die immer wieder schockiert vor den Scherben ihrer gescheiterten „Guten Vorsätze“ stehen.

Die Lebenslüge

Die Fachliteratur ist eifrig auf der Suche nach den Ursachen für diese alle Straferfahrungen und Heiligen Schwüre wieder und wieder beiseite schleudernde Verhaltensbereitschaft.

Der Schluß, Fahren unter Alkoholeinfluß stelle eine irrationale, nur psychopathologisch zu erklärende Verhaltensweise dar, liegt nahe und er wird gezogen. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen dem bißchen gesparten Geld fürs Taxi einerseits, dem erheblichen Risiko für Führerschein, Gesundheit, Leben andererseits. Kein vernünftig seine Entscheidung wägender Mensch wäre zur Teilnahme an einem solch gefährlichen und sinnlosen „Spiel“ zu bewegen.

Der Rückgriff auf den bekanntermaßen leichtsinnig, hemmungslos und unvernünftig machenden Alkohol bietet sich an, und die Fachliteratur akzeptiert dieses Angebot. Im alkoholbedingt enthemmten Zustand, so sagt man, geht der Überblick über die Situation verloren, der Betrunkene sieht keinen Grund mehr, auf das Fahren zu verzichten.

Frägt man die Alkoholfahrer selbst, warum sie betrunken gefahren sind, obwohl sie um die Gefahren wußten, so stehen auf der Hitliste der möglichen Erklärungen (gleich nach dem Achselzuk-ken) zwei Antworten:

* „Was macht man nicht alles, wenn man besoffen ist“

* „Ich versteh’s auch nicht, wie ich nur so blöd sein konnte“

Beruhigende Ratlosigkeit.

Die Theorien von der alkoholbedingten Enthemmung und der unfaßbaren Irrationalität von Alkoholfahrten sind gefährlich beruhigende Theorien der Betroffenen selbst. Sie erklären nichts und decken alles mit einem wohlig geseufzten „Ja, mei!“ zu. Mit diesen beiden Theorien lassen sich brauchbare Lebenslügen zimmern, brauchbar für jemand, der irgendwie schon was ändern möchte (die so unangenehm teuer gewordenen Trunkenheitsfahrten), dabei aber eigentlich alles beim Alten belassen will (sein exzessives Trinkverhalten nämlich).

Wenn ich ein Erklärungsmodell für den notorischen Trunkenheitsfahrer suche, dann muß ich mir zuerst klar machen, daß Alkoholfahrer weder minderbegabte Idioten, noch generell regelverletzende Kriminelle, noch im Leben gescheiterte Versager sind. Der typische, durchschnittliche Alkoholfahrer ist vielmehr so dumm oder so klug, so brav oder so durchtrieben, so erfolgreich oder so gescheitert wie der typische (männliche!) Bürger auch. Sein Führungszeugnis ist ansonsten sauber; noch nicht einmal in Flensburg ist er auffallend häufig registriert. Der „normale“ Trunkenheitsfahrer ist stinknormal - bis auf den Umstand, daß er wieder und wieder und wieder besoffen durch die Nacht fährt.

Der Sachzwang

Vor der Frage nach dem „Warum?“ steht jene nach dem „Wie?“:

Herr Lehmann fährt in ein Lokal, um dort ein oder zwei Bier (1) zu trinken. Ein Bekannter setzt sich dazu, man kommt ins Reden, ein Bier gibt das andere und irgendwann schaut Herr Lehmann auf die Uhr, zahlt und geht. Mit seinen zehn Bieren und etlichen Schnäpsen steigt Herr Lehmann in sein Auto, um die drei (es ist ja nicht weit!) oder dreißig (wie soll ich sonst heimkommen?) Kilometer nachhause zu fahren.

Wir sehen einen betrunkenen, seiner Sinne und seines Verstandes nur noch unvollkommen mächtigen Herrn Lehmann, der (sagen wir mal) 3 km von zuhause entfernt in sein Auto steigt und heim fährt.

Was darf man von einem Betrunkenen erwarten? Vernünftige Entscheidungen etwa? Kaum. Und überdies: Was hätte Herr Lehmann zu diesem Zeitpunkt anders machen können?

Mit dem Bus fahren? Von Hinterwaldbach weg, wo der letzte Bus um 20:21 h fährt?

Ein Taxi rufen? Wo das nächste Taxi erst 15 Kilometer anfahren muß? Bei den heutigen Tarifen? Nachdem das Geld für 10 Bier und etliche Schnäpse ja auch schon weg ist?

Zu Fuß gehen? Drei Kilometer über die Landstraße? Betrunken zwischen Straßengraben und Mittelstreifen hin- und herschwanken? Jetzt, nachts, wo die ganzen Besoffenen mit dem Auto unterwegs sind?

Sich fahren lassen? Von Herrn Meier, der genauso besoffen ist? Der letzte Limo-Trinker hat das Lokal - wie immer - schon vor zwei Stunden verlassen.

Ein echter Sachzwang, dem Herr Lehmann ausgesetzt ist; ein Problem, das schon ein nüchterner Mensch schwer lösen könnte, dem ein Betrunkener aber nahezu hilflos gegenübersteht. Die Trunkenheitsfahrt ist die nahezu unvermeidliche Konsequenz aus dieser dummen, (fast) ausweglosen Zwickmühle.

Die Planung

Im wirklichen und echten Leben ist die Geschichte aber länger.

Sie beginnt damit, daß ein nüchterner Herr Lehmann das Lokal betritt. Er weiß, daß sein Heimweg 3 km betragen wird und er diesen Heimweg mit dem Auto zurücklegen will. Herr Lehmann bestellt ein Bier, trinkt es aus und ist jetzt von der 0,5-Promille-Grenze noch ein Stück entfernt, also fahrtüchtig. Herr Lehmann bestellt ein zweites Bier, trinkt auch dieses aus und ist dann immer noch fahrtüchtig. Herr Lehmann trinkt ein drittes, viertes Bier und irgendwo zwischen seinem vierten und sechsten Bier ist der Punkt erreicht, wo er beim Bestellen des nächsten Bieres - nach dem Gesetz und auch faktisch - noch fahrtüchtig ist. Wir können unbesehen davon ausgehen, daß Herr Lehmann als späterer Zwei-Promille-Fahrer soweit alkoholgewöhnt ist, daß er bei 0,5 ‰ keine Ausfallserscheinungen zeigt. Stünde er jetzt auf und stiege in sein Auto, so würde ihn jeder Polizist nach dem Alko-Test weiterwinken.

Herr Lehmann steht aber nicht auf, er trinkt auch dieses Bier aus und hat nun die 0,5-Promille-Grenze überschritten. An diesem Punkt der Geschichte hat sich Herr Lehmann entschlossen, angetrunken oder betrunken nachhause zu fahren. Er weiß zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht, ob er letztlich mit 1,0 ‰, mit 1,4 ‰ oder mit 2,0 ‰ heimfahren wird. Aber: daß er mit zuviel Alkohol fahren wird, weiß er in diesem - bewußtseinsklaren! - Moment bereits.

Der nüchterne Herr Lehmann bringt also den später betrunkenen Herrn Lehmann in eine Zwangslage, aus welcher dieser kaum noch anders herauskommen kann als durch eine Trunkenheitsfahrt.

Der Moment, in dem Herr Lehmann das eine Bier zuviel bestellt, ist der Knackpunkt seiner Trunkenheitsfahrt, spätestens hier liegt der Knackpunkt der allermeisten Trunkenheitsfahrten. Trunkenheitsfahrten beginnen nicht erst dann, wenn der Betreffende in den Wagen einsteigt. Beim Wegfahren explodiert die Bombe, deren Zündschnur lange vorher gelegt und angezündet wurde.

Die Routine

Nun behaupte ich aber, daß die Geschichte von Herrn Lehmann eine seltene Geschichte ist. Sehr viel häufiger sind folgende Geschichten:

* Herr Huber hat Lust auf einen Schwatz in gemütlicher Runde, gewürzt durch etliche Glas Bier. Er fährt deshalb in ein Lokal und trinkt dort - planmäßig - etliche Biere und Schnäpse. Dann setzt er sich ins Auto und fährt heim.

* Wie jeden Freitag fährt Herr Maier auch diesmal in sein Stammlokal. Wie jeden Freitag trinkt Herr Maier auch diesmal 8 Bier und einige Schnaps und wie jeden Freitag fährt Herr Maier auch diesmal wieder nachhause.

In diesen beiden Geschichten liegt der Punkt, an dem die Trunkenheitsfahrt beschlossene Sache ist, noch erheblich früher als bei Herrn Lehmann.

Herr Huber weiß bereits beim Wegfahren, daß er im Lokal mehr trinken wird, als für die Heimfahrt zulässig ist. Herr Huber entschließt sich zur Trunkenheitsfahrt in dem Moment, da er sein Haus verläßt.

Herr Maier weiß seit Jahren, daß er an jedem Freitag betrunken fahren wird. Seine Trunkenheitsfahrt ist eine Routinesache.

Trunkenheitsfahrten entstehen in aller Regel nicht aus der momentanen Stimmung alkoholbedingter Enthemmung heraus. Nüchtern geplant verlaufen sie nach dem klassisch-einfachen Dreisatz:

Das Spiel

Wenn also die allermeisten Trunkenheitsfahrten nicht aus einer momentanen - irrationalen - Rauschlaune heraus entstehen, sondern nüchterner Planung folgen, der alltägliche Wahnsinn demnach Methode hat, dann stellt sich allerdings mit Macht die Frage nach dem Motiv: Warum setzen sich ansonsten gesetzestreue Bürger, die in aller Regel beruflich tüchtig und erfolgreich sind, mehr oder weniger regelmäßig der Gefahr eines Unfalls oder Führerscheinentzuges mit manchmal existenzbedrohenden Folgen aus, obwohl sie um diese Gefahren wissen?

Versetzen wir uns in die Situation eines Betroffenen: Herr Lehmann sitzt im Lokal, hat zuviel getrunken und noch einen 3 km langen Heimweg vor sich. Er kann jetzt

* trotz des genossenen Alkohols heimfahren, oder er kann

* den Wagen stehen lassen und statt dessen eine Alternative wählen, vom Fußweg über das Taxi bis zum Übernachten.

Wo liegen für Herrn Lehmann die Vor- und Nachteile der beiden Entscheidungsalternativen? Die Alkoholfahrt ist zwar einfach und bequem, dafür aber riskant, während andererseits die möglichen Alternativen das Risiko meiden, im Gegenzug jedoch aufwendig oder mühsam sind. Herr Lehmann steht vor einer „Entscheidung unter Unsicherheit“.

Herr Lehmann wägt ab.

* Entschließt er sich, mit Alkohol zu fahren, dann kommt er schneller und bequemer nachhause als zu Fuß, billiger als mit dem Taxi - falls er keinen Unfall hat oder von der Polizei angehalten wird. Gibt es dagegen einen Zwischenfall, so kann er tot oder verletzt sein, sein Führerschein wäre weg, mit allen beruflichen und privaten Nachteilen, eine Geldstrafe von mehreren tausend Euro käme hinzu.

* Wählt er eine Alternative zur Alkoholfahrt, so geht er kein Risiko ein, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben und kann sich am nächsten Morgen als prinzipienfester Mensch auf die Schulter klopfen. Dafür muß er allerdings einen zeitaufwendigen und mühsamen Fußweg oder ein teures Taxi in Kauf nehmen.

Nun sind die Vorteile der Alternative „fahren“ handfeste und greifbare Vorteile. Und: Sie sind an Ort und Stelle zu genießen, der „Gewinn“ des „Glücksspiels Trunkenheitsfahrt“ wird sofort „ausbezahlt“.

Wer sich hingegen für die Alternative „nicht fahren“ entscheidet, muß sich anstrengen, um überhaupt zu merken, daß er etwas gewonnen hat. Risiko ist ein abstrakter, mathematischer Begriff, Risiko ist nicht fühlbar, seine Abwesenheit noch viel weniger. Auch das reine Gewissen muß ich mir erarbeiten, indem ich moralische Bedenken überhaupt erstmal aufkommen lasse. Nebulöse Vorteile konkurrieren mit handfesten Nachteilen.

Geht alles gut und kommt Herr Lehmann sicher nachhause, dann lacht er am nächsten Morgen Herrn Beer, seinen brav gebliebenen Zechgenossen, aus. Herr Beer ist um 20,- € ärmer, weil er für Hin- und Rückfahrt das Taxi genommen hat.

Wenn es aber doch mal kracht oder Herr Lehmann in eine Polizeikontrolle gerät, ist sein Schaden groß. Aus der Kurs- und Begutachtungspraxis heraus läßt sich der durchschnittliche Schaden eines Führerscheinentzugs (kaputtes Auto, Geldstrafe, Gerichts- und Anwaltskosten, berufliche Nachteile etc.) auf ca. 6.000 € beziffern.

20,- € für Herrn Beers Taxi stehen dann 6.000,- € Schaden bei Herrn Lehmann gegenüber. Jetzt lacht Herr Beer. Hätte Herr Lehmann doch ein Taxi genommen, die 20,- € dafür wären gut angelegt gewesen, er hätte viel sparen können.

Womit wir doch wieder bei der Irrationalität der Trunkenheitsfahrer wären?

Die Wahrscheinlichkeit

Zocker und Versicherungsmathematiker wissen, daß man ein „Spiel“ - Roulette oder Haftpflichtversicherung - erst dann adäquat beurteilen kann, wenn man neben Spieleinsatz und möglichem Spielgewinn auch die Wahrscheinlichkeit eines Treffers kennt.

Es leuchtet ein, daß auf diesem Gebiet der verantwortungsvolle Herr Beer keinen guten Stand hat. Er ist von vorneherein chancenlos, den Nachteilen seiner Entscheidung zu entgehen. Ringt er sich durch, zu Fuß zu gehen, dann muß er auch gehen, entschließt er sich für ein Taxi, so muß er es auch bezahlen.

Was die Chancen von Herrn Lehmann betrifft, so schätzt man die Dunkelziffer bei Trunkenheit im Verkehr auf Werte zwischen 1 : 300 und 1 : 2000. Ich persönlich nenne bei Nachfragen gerne die runde Zahl 1 : 1000, nicht ohne hinzuzufügen, daß dies eher eine vorsichtige Schätzung sei, die Dunkelziffer wahrscheinlich noch erheblich höher liegen dürfte.

Vielen, vor allem den Praktikern - sprich: Trunkenheitsfahrern - ist dieser Wert zu hoch. Wie der Name Dunkelziffer schon andeutet, weiß niemand etwas Genaueres. Man kann sich aber an die Wahrheit herantasten, indem man die abstrakten Zahlen anschaulich und nachvollziehbar macht.

In Deutschland werden jedes Jahr 200.000 Menschen wegen Alkohol am Steuer verurteilt oder zumindest mit einer Geldbuße und Fahrverbot belegt. Bei einer Schätzung von 1 : 1000 kommen wir auf 200 Millionen tatsächlicher Trunkenheitsfahrten pro Jahr in Deutschland. Bei 80 Millionen Einwohnern wären das im Jahr 2,5 Trunkenheitsfahrten pro Einwohner.

Suchen Sie sich jetzt eine noch überschaubare Kleinstadt von sagen wir 10.000 Einwohnern aus. Nach unserer Rechnung müßten in dieser Stadt pro Jahr 25.000 Trunkenheitsfahrten stattfinden. Geteilt durch 365 kommen wir auf 68 Alkoholfahrten pro Tag in dieser 10.000-Einwohner-Stadt.

Das erscheint ihnen übertrieben?

Bedenken Sie aber:

* Damit sind nicht 68 Personen gemeint, die betrunken fahren, sondern 68 Fahrten. Wer seine Lokalrunde dreht, fährt vom ersten zum zweiten Lokal bereits angetrunken, vom zweiten zum dritten betrunken und vom dritten nachhause dann hackedicht.

* Und es zählen alle Fahrten, die über dem gesetzlichen Limit von 0,5 Promille liegen, nicht nur jene, die zum Führerscheinentzug oder gar zur anschließenden MPU führen.

Organisationen, die in der Suchtkrankenhilfe tätig sind, schätzen die Zahl behandlungsbedürftiger Alkoholiker in Deutschland auf ca. 3 Millionen. In unserer 10.000-Einwohner-Stadt leben demnach etwa 375 Alkoholiker. Davon fahren sicher nicht alle Auto, bestimmt aber ein Drittel, womit wir bei 125 Kandidaten für eine Trunkenheitsfahrt allein aus dem ganz harten Kern sind. Personen wohlgemerkt, nicht Fahrten.

In meinem Heimatort, der unserer 10.000-Einwohner-Stadt sehr nahekommt, weist das Branchenverzeichnis 28 Lokale auf. Sieben davon sind reine Eßlokale, in denen erfahrungsgemäß wenig getrunken wird. Es bleiben 21 Trinklokale übrig, von denen eines eine ziemlich große Discothek ist. Wieviel Leute werden sich wohl pro Lokal und Tag über die 0,5 Promille trinken und dann fahren? 10? 15? Seien wir vorsichtig, schätzen wir 7. Stellen wir auch noch in Rechnung, daß viele Lokale einen Ruhetag haben und reduzieren wir deshalb auf 6 heftige Trinker pro Tag und Lokal, so kommen wir mit dieser - sehr vorsichtigen - Rechnung auf 126 Trunkenheitsfahrten in meiner Kleinstadt.

Obwohl nach diesen Überlegungen eine Dunkelziffer von 1 : 1000 viel zu gering sein dürfte, bleiben wir vorsichtig und gehen bei unseren folgenden Überlegungen und Berechnungen trotzdem von dieser konservativ geschätzten Mindestzahl aus. Für Herrn Lehmann liegt dann die Wahrscheinlichkeit dafür, daß er wegen seiner Entscheidung vom Leben oder der Justiz bestraft wird, bei 0,1 %. Seine Trunkenheitsfahrt wird also mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 % folgenlos bleiben.

Auf eine griffige Formel gebracht, heißt das: Es geht fast immer gut!

Nehmen wir an, Herr Beer und Herr Lehmann treffen sich regelmäßig zum Stammtisch, regelmäßig fährt Herr Lehmann betrunken nachhause, während Herr Beer ein Taxi ruft. Bevor es zum Führerscheinentzug kommt, ist es für Herrn Lehmann tausendmal gutgegangen. Tausendmal konnte er 20 € in ein Sparschwein stecken, während sein Stammtischbruder jeweils die gleiche Summe ausgab. Nun, da es passiert ist, muß er 6.000 € bezahlen, um die Folgen seiner Trunkenheitsfahrt auszugleichen.

Herr Lehmann plündert sein inzwischen reichlich gefülltes Sparschwein, blättert die 6.000 € hin und hat immer noch 14.000 € übrig. 14.000 €, die dem braven Herrn Beer fehlen.

Das muß Herrn Beer zu denken geben.

Die Häufigkeit

Bei der ersten Berechnung hatten wir eine Fahrt betrachtet, hatten dem unwahrscheinlichen (wenn auch möglichen) Schaden von 6.000 € eine „Versicherungsprämie“ von 20 € gegenübergestellt. Herrn Lehmanns Verhalten war einigermaßen verrückt erschienen.

Im zweiten Beispiel hingegen hatten wir eine ganze Serie von Fahrten untersucht, hatten zur Vermeidung des möglichen (wenn auch unwahrscheinlichen) Schadens von 6.000, € eine auf jeden Fall zu entrichtende „Versicherungsprämie“ von insgesamt 20.000, € errechnet. Die Auszahlungsmatrix hatte sich drastisch zuungunsten des braven Herrn Beer verändert.

Der springende Punkt ist: Es handelt sich tatsächlich um zwei völlig verschiedene „Spiele“! Sinnvoll und rational wird das Verhalten von Herrn Lehmann erst dann, wenn man voraussetzt, daß er sein Spiel oft und regelmäßig spielt.

Wer zweimal im Jahr eine Alkoholmenge erreicht, die ihn am Steuer mit dem Gesetz in Konflikt bringen würde, handelt in der Tat absolut irrational, wenn er wegen der paar Euro Taxikosten das enorme Risiko - Risiko als Produkt von Schadenssumme mal Eintretenswahrscheinlichkeit - eingeht.

Für Herrn Lehmann, zu dessen Lebensstil häufiger und heftiger Alkoholgenuß gehört, wäre eine regelmäßige Heimfahrt mit dem Taxi einfach nicht bezahlbar.

* Wer oft und viel Alkohol trinkt, kann sich die aufwendigen Vermeidungsalternativen gar nicht leisten.

Die Erfahrung

Entgegen einem weitverbreiteten und deshalb oft gehörten Gerücht, sind Trunkenheitsfahrer keineswegs zu dumm oder durch den häufigen Alkoholmißbrauch zu abgestumpft, um aus gemachten Erfahrungen (Führerscheinentzug) nachhaltig zu lernen. Sie fahren vielmehr betrunken, gerade weil sie lernfähig sind und ständig am Erfolg lernen.

Aufgrund der Erfahrungen, die er im Laufe der Zeit mit eigenen Trunkenheitsfahrten, sowie jenen der Trinkergenerationen vor ihm gemacht hat, weiß Herr Lehmann nur zu genau, wie verschwindend gering sein Entdeckensrisiko ist. Die Polizei kann nicht überall stehen.

Er, der das Wort „Dunkelziffer“ noch nie in seinem Leben gehört hat, kennt die Dunkelziffer in Wahrheit sehr genau: Das Leben hat sie ihn gelehrt. Für ihn, der gerne viel und oft Alkohol trinkt, zahlt es sich aus, wenn er auch nach Alkoholgenuß einfach losfährt.

So mancher Teilnehmer an diesem „Spiel“ fällt dabei natürlich böse auf die Nase, sei es, daß er zu oft erwischt wird, sei es, daß er einen schweren Unfall erleidet, behindert bleibt, stirbt. Pech.

Die Gesamtmenge aller Viel- und Oft-Trinker, die sich für die Alternative „Fahren“ entscheiden, macht jedoch unter dem Strich einen besseren Schnitt als jene, die sich brav um Alternativen be-mühen. So wie die wagemutig Entschlossenen insgesamt mehr erreichen als die ängstlich Verzagten, auch wenn manche von ihnen dabei - c’est la vie! - böse verlieren.

In der Sprache der Spiel- und Entscheidungstheorie heißt das:

* Der Schadens-Erwartungswert für „Alkoholisiert Fahren“ ist niedriger als jener für die möglichen „braven Alternativen“.

Was wiederum heißt:

* Fahren unter Alkoholeinfluß ist keine irrationale Verhaltensweise. Hinter einer Trunkenheitsfahrt steckt Logik, eine ausgesprochen kühl und nüchtern kalkulierende Form von Rationalität.

Die Rechnung

Eines ist klar: Kein Alkoholfahrer - und wäre er Versicherungsmathematiker oder Zocker von Beruf - hat je eine solche Entscheidungstafel skizziert, bevor er sich zur Trunkenheitsfahrt entschlossen hat. Solche Berechnungen sind Konstrukte nachträglicher Analytiker.

Niemand stellt im Alltag solche Berechnungen an und doch müssen wir ständig Entscheidungen unter Unsicherheit treffen, müssen abwägen und uns - oft blitzschnell - für eine mögliche Alternative entscheiden.

Wenn ein Panther bereits eine Weile hinter einer Antilope hergejagt ist, dann steht auch er vor einem Entscheidungsproblem:

* Setzt er die Jagd fort und erwischt die Antilope, so ist alles gut (für ihn), er kommt zu seiner benötigten Ration Eiweiß.

* Jagt er erfolglos weiter, so hat er eine Menge Kalorien verschwendet.

* Bricht er die in jedem Fall sinnlose Jagd ab, so hat er zwar Kalorien verbraucht, aber noch Energie genug für einen neuen Versuch bei einer - hoffentlich - nicht so sportlichen Antilope.

* Steckt er seinen Versuch voreilig (da aus falscher Einschätzung der Situation heraus) auf, so hat er auch jetzt schon eine Menge Kalorien verbraucht, ohne dafür eine Gegenleistung bekommen zu haben.

Natürlich weiß der Panther nichts von Kalorien, Eiweiß und Wahrscheinlichkeiten. Analysen von Verhaltensforschern zeigen aber, daß die erfolgreichen, also überlebenden Panther sich verhalten, als würden sie ihren Kalorienverbrauch bei der Jagd gegen den Eiweißgewinn bei geglückter Jagd unter Berücksichtigung der Erjagenswahrscheinlichkeit aufrechnen.

Hinterrücks, instinktiv und unbewußt laufen solche Risikoabwägungen, schadenminimierenden und gewinnmaximierenden Berechnungen ständig in uns ab.

Der Unfall

„Bleib mir weg mit deinen 6.000 € Schaden“, könnte man sagen. „Wenn ich tot oder verkrüppelt bin, oder einen Toten oder Verkrüppelten auf dem Gewissen habe, läßt sich das mit Geld doch gar nicht mehr aufrechnen.“

Da ist was dran und immerhin ist das Unfallrisiko bei erheblicher Alkoholisierung zweihundertmal höher als sonst.

Aber die Realität ist brutaler.

Weitaus die meisten Alkoholfahrten, haben wir gehört, enden „glücklich“, sie bleiben folgenlos. Richten wir unser Augenmerk auf den winzigen Rest von 0,1 %, so stellen wir fest, daß die allermeisten dieser unglücklichen Promillefahrten nicht an der Leitplanke enden, sondern in der Polizeikontrolle. Kommt es doch zum Unfall, bleibt es meist beim Sachschaden. Sind Personenschäden zu beklagen, so handelt es sich in der großen Mehrzahl um Verletzungen, die zwar nicht leicht sind, dennoch aber keine bleibenden Schäden hinterlassen. Nur eine winzige Minderzahl aller Alkoholunfälle, ein verschwindend geringer Prozentsatz aller Trunkenheitsfahrten endet mit Toten oder lebenslang gezeichneten Unfallopfern.

Es bleiben jährlich ca. 8.000 Verkehrstote in Deutschland, das ist richtig. Nur: Das Risiko, daß ein ganz bestimmter, (nüchterner!) Fahrer auf einer ganz bestimmten Fahrt von Punkt A nach Punkt B schwer verunglückt, ist minimal. Das zweihundertfache von fast nichts ist aber immer noch so klein, daß es der Erwähnung kaum wert ist.

Die Unfallstatistik, so erschreckend sie ist, läßt Herrn Lehmann also ziemlich kalt.

Der Rückfall

Irgendwann ist Herr Lehmann doch erwischt worden, irgendwann bekommt er anschließend seinen Führerschein wieder.

Herr Lehmann ist im Grunde seines Herzens ein braver Mann, der Führerscheinentzug hat ihn nicht nur finanziell geschmerzt, er war auch ehrlich entsetzt über sich selbst. Den neuen Führerschein nimmt er mit den besten Vorsätzen entgegen. Das Trinken will er zwar nicht aufgeben, dazu „schmeckt“ es ihm zu gut und dazu ist ihm der Stammtisch zu lustig, aber daß er künftig den Wagen stehenlassen wird, wenn er getrunken hat oder nicht trinken wird, wenn er noch fahren will, ist ihm zum festen Entschluß gereift.

Eisern wird er vom Stammtisch aufstehen und zu Fuß nachhause wandern, belächelt von seinen Zechgenossen, die nach alter, bewährter Gewohnheit in ihre Autos steigen und heimfahren. Und beim nächsten Stammtisch wird Herr Lehmann feststellen, daß alle seine Freunde noch da sind, und alle haben sie noch ihren Führerschein. Das geht so Monat um Monat, und Herr Lehmann, der sich abmüht, sieht seine Freunde den bequemen Weg wählen. Und das Ergebnis ist in beiden Fällen das Gleiche: Man lebt und hat den Führerschein.

Herrn Lehmann geht es im Prinzip nicht viel anders als einer Laborratte in einer SKINNER-Box, einem kunstvoll als Versuchsanordnung gestalteten Käfig. Diese Ratte hatte einst gelernt, durch Pfotendruck auf einen Hebel eine Leckerei zu erlangen. Hunderte von Malen hatte die Ratte auf den Hebel gedrückt und immer die angenehme Erfahrung der erlangten Leckerei gemacht. Einmal - ein einziges Mal! - hatte der Druck auf den Hebel einen Elektroschock zur Folge gehabt. Jetzt ist die Ratte zwar immer noch begierig auf die Leckerei, ist aber vom erlittenen Schock noch zu beeindruckt, um sich erneut an den Hebel zu wagen.

In diesem Widerstreit von Wunsch und Angst sieht sie die anderen Ratten im Käfig weiter auf den Hebel drücken - und damit stets zu ihrer Leckerei kommen. "Elektroschocks" sind in unserer, der Wirklichkeit nachgebauten, Versuchsanordnung so selten, daß sie mit einiger Wahrscheinlichkeit in einer kleinen Rattengemeinde in einem überschaubaren Zeitraum praktisch nicht vorkommen. Unserer Ratte wird der Mechanismus der Maschine klarer und klarer: Die Maschine ist gebaut, Leckereien zu spenden, das ist ihr normales Funktionieren. Der Elektroschock war offensichtlich eine Ausnahme, Folge eines Defekts der Maschine, ein dummer Zufall. Ein Zufall, der mit ihm, der Ratte Lehmann, nichts zu tun hat.

Und wenn Herr Lehmann das einmal kapiert hat, werden seine nächtlichen Fußwanderungen nachhause bald ein Ende haben.

* Fahren unter Alkoholeinfluß ist unter - zugegeben pathologischen - Umständen eine durchaus brauchbare, logisch stringente und in der Praxis vielfach bewährte Verhaltensweise. Genau wegen dieser inneren, erfolgsträchtigen Logik ist diese Verhaltensweise so ungemein hartnäckig und änderungsbeständig.

* Alkoholmißbrauch und Trunkenheitsfahrten sind nahezu unlösbar miteinander verbunden. Das Trennen von Trinken und Fahren ist bei Alkoholmißbrauch nicht mehr zuverlässig möglich. Die einzig sinnvolle Lösung des Rückfallproblems ist die Lösung des Alkoholproblems.

Der Feldversuch

Eine makabre Geschichte zum Schluß, die den Vorzug hat, wahr zu sein.

Im Dezember des Jahres 1982 hatte der regionale Polizeipräsident in drei niederbayerischen Landkreisen verstärkte Alkoholkontrollen durchführen lassen. Die „Aktion Blasrohr“, so der offizielle Name, sollte bis in die Sommermonate 1983 hinein dauern und war eine Reaktion auf die in ganz Niederbayern auffallend hohe Unfallhäufigkeit unter Alkoholeinfluß. Da man die Kraftfahrer in erster Linie nicht erwischen, sondern sie vielmehr vom alkoholisierten Fahren abschrecken wollte, war der Plan einige Zeit vorher in den Medien bekanntgemacht worden.

In den Monaten Dezember ‘82 und Januar ‘83 ging die Zahl der Unfallverletzten um 50 Prozent zurück, die Zahl der Unfalltoten gar von 4 in den beiden Vergleichsmonaten des Vorjahres auf Null in diesem Jahr zurück.

Zahlen für Februar etc. konnten nicht erhoben wurden, da die Aktion Ende Januar 1983 wieder gestoppt wurde.

Die „Aktion Blasrohr“ hatte nämlich den Nebeneffekt, daß nicht nur die Zahl der Fahrten unter Alkoholeinfluß zurückging, sondern auch der Alkoholkonsum an sich.

Die darüber verärgerten Bierbrauer und Wirte klagten dem Passauer CSU-Bundestagsabgeordneten ihr Leid. Dieser schrieb einen Brief an das Bayerische Innenministerium, welches daraufhin die - zuvor vom Ministerium gebilligte - Aktion wieder stoppte.

Was zum einen die ungemein sensible und rasch reagierende Rationalität der Trunkenheitsfahrer beweist, welche sofort auf die drastische Veränderung der Auffallenswahrscheinlichkeit reagiert haben. Ihre Kosten-/Nutzenrechnung war durcheinanderwirbelt worden, der Schadens-Erwartungswert für „Alkoholisiert Fahren“ deutlich erhöht. Zwei Monate lang hat sich das Fahren unter Alkoholeinfluß in dieser Region nicht mehr ausgezahlt und sofort sind die Alkoholfahrten dramatisch zurückgegangen.

Zum anderen macht dieses Beispiel natürlich mit aller nur wünschenswerten Brutalität deutlich, daß jegliches Bemühen um eine Verbesserung pathologischen Alkoholkonsumverhaltens dort ihre Grenzen findet, wo eine tatsächliche Veränderung zu befürchten wäre.

Prost!

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hagerhard

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