Ein urtypisches Merkmal der futuristischen Fiktion ist das einer Gesellschaft, welche Religion und Tradition „überwunden“ hat, und sich anschliessend, befreit von den Fesseln der Irrationalität, seine Differenzen beiseite gelegt und sich rasant entwickelt hat. Es spiegelt sehr klar den Gedanken wieder, dass Religion und Tradition nur unsinniger, irrationaler Aberglaube ist, die Wurzel von Konflikten und Kriegen, das Opium des Volkes, welchen es zu überwinden gilt, um sich anschliessend dem voll und ganz dem rationalistischen Denken hinzugeben, der Wissenschaft, dem Fortschritt.

Obgleich dieser Gedanke aufs Erste nachvollziehbar scheint, ist es in der Tat so, dass noch nie in der Menschheitsgeschichte eine Zivilisation sich fortschrittlich entwickelt hat, ohne gleichzeitig irgend eine Art von religiösen Glauben zu hegen. Dies muss, da Korrelation nicht gleich Kausalität ist, nicht bedeuten, dass die Religion hier der bedeutende Faktor war, oder sogar, dass es nicht so gewesen sei, dass der Fortschritt vielleicht trotz und nicht wegen der Religion entstand. Ebenfalls kann man nicht leugnen, dass oftmals in der Menschheitsgeschichte und bis zum heutigen Tag, Religion zur Begründung von Kriegen und Auseinandersetzung war und ist.

Dem Konzept dieser „Befreiung“ vom Joch des irrationalen Glaubens liegt die Überlegung zu Grunde, dass der Mensch sich inzwischen zu einem potentiell absolut rationalen oder zumindest hochrationalen Wesen entwickelt hat, und dass die Irrationalität sozusagen durch die Religion und sonstigen Traditionen auferlegt wird. Betrachtet man das o.g. Stereotyp nach diesem Aspekt, so kommt es bereits ins wanken: Ist der Mensch tatsächlich in seinem Inneren ein hochrationales Wesen, welches zur Irrationalität erzogen wird? Wenn wir Kinder in der Schule betrachten, wie sie erzogen werden müssen, wie man ihnen Manieren und Anstand beibringen muss, wie schwer sie sich zumal mit Naturwissenschaftlichen Fächern tun, wie viele bereit sind, mal beim Examen zu schummeln anstatt sich beim Lernen anzustrengen; da muss doch die logische, rationale Folgerung sein, dass, ganz im Gegenteil zu dieser Idee, es die Rationalität ist, welche dem Menschen anerzogen werden muss, während ihm tatsächlich das Irrationale innewohnt.

Auch wenn man die darwinsche Evolutionstheorie zur Hand nimmt, ist die Folgerung die gleiche: Wir haben uns von den Affen, also von einem wilden Tier, zum Menschen entwickelt, ergo war das Animalische, das Instinktive, das Irrationale zuerst, und erst später kam das Rationale. Ist es tatsächlich wahrscheinlicher, dass der Mensch nun „von Natur aus“ ein voll und ganz rationales Wesen wäre, welches keine Tradition und keine Religion braucht sondern davon nur zurückgehalten würde; als dass der Mensch die Rationalität nur erlernt, und diese in stetigem internen Konflikt mit dem Animalischen in ihm ist?

Geht man die Frage anders herum an, so wäre die Unterstellung, es sind diese irrationalen Phänomene, welche auch das Irrationale im Menschen hegen und antreiben, die niederen Triebe, welche der rationale Mensch zu überwinden versucht, aber welche von den schwachen Geistern die dem Aberglaube von Religionen verfallen wieder provoziert werden. Dies ist zumindest im Ansatz kohärent.

Die Frage wäre dann, wo findet sich die Gesellschaft wieder, welche ihre niederen Triebe nicht auf diese Art und Weise vom Glauben angeheizt sähe? Die futuristische Fiktion ist hier klar: In einer neuen Aufklärung, in einer Epoche von Rationalismus, in einem rasanten Fortschritt. Das ist letztlich eine Spekulation, eine Möglichkeit.

In der Realität spiegelt sich diese Spekulation allerdings nicht wieder, denn alle historischen und zeitgenössischen Beispiele zeigen auf, dass in Gesellschaften, welche die konventionelle Religion überwunden sehen, sich innert kurzer Zeit, anschliessend an eine erste, kurze Epoche von Rationalismus, unweigerlich Götzenkulte an das vermeintlich Rationale auftreten. In der kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschaft der Ostblockstaaten war dies die Staatsgläubigkeit. Der Staat wurde zum allmächtigen Herrscher, welcher die Moral diktierte, über alle Facetten des Lebens entschied und welcher den Menschen vor jeder Gefahr behüten sollte.

In der Gegenwart, wo der christliche Glaube in den abendländischen Staaten immer mehr zur Randerscheinung reduziert wird, entwickeln sich alltägliche Phänomene zu kultischen Bewegungen: Menschen, die sich auf die Strasse kleben, um uns vor der kommenden Apokalypse zu warnen; Menschen, die verkünden dass wir nun die Herren über die Schöpfung sind, indem wir uns das Geschlecht wandeln können; Aufrufe zum heiligen Krieg gegen den Ungläubigen irgendwelcher diffuser „westlichen Werte“; die Verehrung der Hässlichkeit als Geisselung oder Aufstand gegen das Göttliche; und vor allem ein niemals endender Konflikt über die Deutungshoheit der Moralität, der Epistemologie, sogar der Metaphysik. Fern von einem idealisierten Zustand der Rationalität, werden rationale Konzepte wie Wissenschaft, Wertvorstellung oder Staatsform stattdessen zu Dogmen erhoben, welche inquisitorisch durchgesetzt werden sollen, als handle es sich um ein unanfechtbares, heiliges Evangelium der Wahrheit.

Der christliche Glaube stellt eine Aufklärung dar in Bezug auf die Frage über das Göttliche und das Irdische, das Transzendentale und das Materielle. Im Fehlen einer solchen Aufklärung, tendiert der Mensch unweigerlich dazu, das Materielle zum Transzendentalen zu erheben, wodurch die Grenzen zwischen Irdischem und Göttlichen verschwimmen. Der Mensch meint sich nun selber Gott, er meint sich allwissend und allmächtig, und daraus, dass er meint, all das, was er sieht existiere auch, schliesst er, dass all das, was er nicht sieht auch gar nicht existiert. Es ist dieser letzte Gedanke, welcher schlussendlich das rationale Denken zu Nichte macht: Denn nur der kann neues Wissen erlangen, der auch die Demut hat, sein Unwissen anzuerkennen. Und der Ansatz, über die grössten, unergründbaren Mysterien dieses Universums, nämlich der Schöpfung, des Lebens, des Geistes, Gewissheit zu haben, bedeutet auch, sich im Besitz der absolutesten aller Wahrheiten zu befinden.

Somit wird die Abwendung vom Glauben letztlich zum ultimativen Aberglaube, worin jedes Phänomen gleichzeitig irdisch und göttlich, materiell und transzendental ist. Die Befreiung vom christlichen Glauben wird zur Befreiung von der Befreiung aus diesem Käfig von Irr- und Aberglaube.

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